Dienstag, 13. Januar 2015

Nous sommes terroriste!

Hätte man so nicht erwarten können. Pünktlich zu seinem 125. Geburtstag zitiert ganz Deutschland Kurt Tucholsky: "Satire darf alles." Und natürlich hat er recht, freie Meinungsäußerung ist das höchste Gut des Menschen, neben seinem Recht auf Unversehrtheit.

Aber deswegen bin ich noch lange nicht "Charlie", werde es nicht sein und will es nicht sein. Ich meide wie die Pest diesen Klick-Konsens, unter dessen Deckmantel soviel Dreck daherschwimmt. Daß Pegida das übernimmt, geschenkt. Daß Gestalten wie Geert Wilders von einer "De-Islamisierung" faseln, dito. Wer solche Typen inhaltlich ernst nimmt, der ist bescheuert oder bei der CSU, ungeachtet des Gefahrenpotentials, das sie darstellen. Letzteres ist offenkundig, und den Kampf kann man annehmen.

Das wahre Übel liegt in der Konsenssauce, die genutzt wird, die aufbrechenden Konflikte, die die Machtverhältnisse zu bedrohen beginnen, zu überkleistern. Die Sauce der "westlichen Wertegemeinschaft", die hier angegriffen sei. So wird die Kritik an der gleichgeschaltet wirkenden Ukraine-Berichterstattung perfide gleichgesetzt mit den Anschlägen auf Charlie Hebdo. In der ZEIT, dem Ressentimentverstärker des bürgerlichen Halbverbildeten, vollbringt das Bernd Ulrich.

Naja, "alles" ist letztlich auch begrenzt...

Wie die Herren der ZEIT eigentlich zu Satire stehen, wurde ja 2014 dokumentiert. Ziegenfickende Muslime? Nix dagegen. Politische Verbindungen des Herausgebers veröffentlichen? Das geht zu weit. Das bedroht wohl die in diesen Tagen besungene "westliche Wertegemeinschaft" und ihre "Meinungsfreiheit".

Charlie Hebdo hat Karikaturen veröffentlicht, die teilweise auch Julius Streicher gefallen hätten. Das ist ihr Recht. Es ist ihr Recht, die Minderheit der Muslime, die in Frankreich angefeindet und marginalisiert existiert, in ihren Gefühlen zu verletzen. Sie werden es auch weiterhin tun, und nach den Morden gehört Mut dazu, wenn auch nicht Weisheit**. Es ist ihr Recht, das zu tun, ohne eingeschränkt, ohne bedroht oder gar ermordet zu werden. Allerdings kennt die hochgelobte Freiheit auch bei Charlie Hebdo Grenzen:
In 2008, another of Charlie Hebdo’s famous cartoonists, Siné, wrote a short note citing a news item that President Sarkozy’s son Jean was going to convert to Judaism to marry the heiress of a prosperous appliance chain. Siné added the comment, “He’ll go far, this lad.” For that, Siné was fired by Philippe Val on grounds of “anti-Semitism”.  Siné promptly founded a rival paper which stole a number of Charlie Hebdo readers, revolted by CH’s double standards.*
Welche Freiheit leben wir den Muslimen denn vor? In Frankreich und Belgien gibt es ein Burkaverbot, aus Gründen der Freiheit, wie manch Zeitgenossin fabuliert. Wie widersinnig - eine Vorschrift ersetzt die andere, beide ideologisch begründet, aber eine wird als "Freiheit" verkauft. In England sollen Kleinkinder von ihren KiTa-Betreuern denunziert werden, wenn sie gewisse Dinge äußern. In Spanien ist es gefährlich, oppositioneller Journalist zu sein, und auch als Anwalt landet man im Knast.

Freiheit, Freiheit überall. Ja, Herr Gauck. Dazu hört man irgendwie so gar nichts von Ihnen.

Welche Werte transportiert diese Westliche Wertegemeinschaft in die Welt? Foltern ohne legale Konsequenzen, die Anstifter dürfen sogar stolz darauf sein. Angriffskriege mit Hekatomben ziviler Opfer. Drohnenattentate, bei denen Familien ausgelöscht werden, die nur zu einer Hochzeit gekommen sind. Hinrichtungen ohne legale Urteile. Staaten Europas werden in existentielle Armut getrieben um die Profite von Banken zu sichern. Die eigene Bevölkerung wird unter Totalüberwachung gestellt, natürlich im Namen der Freiheit.

Westliches Werteauslieferungsgerät Typ MQ-9 "Sensenmann"

Nous sommes terroriste

Was sich in Paris - in typischer Photo-Op-Manier - an Machthabern versammelt hat, das steht garantiert für vieles. Als positiver Wert im ideellen Sinn ist davon aber nichts zu bezeichnen. Und für diese Inszenierung, deren einziger Zweck eine Stärkung bestehender Verhältnisse ist, haben sich, das muß so hart gesagt werden, über eine Million Menschen in der französischen Hauptstadt zu nützlichen Idioten machen lassen. Ungeachtet ihrer individuellen Einstellung, die sicherlich in den meisten Fällen aufrichtig und auch richtig war, dienten sie letztlich nur als Staffage einer Inszenierung der Einheit.

Nichts schweißt die eigenen Reihen besser zusammen als ein gemeinsamer Feind.

Mein Wertekanon ist humanistisch, demokratisch und frei. Ich bin Verfassungspatriot und halte das Grundgesetz in seiner Fassung vor dem 30. Mai 1968 für die tragfähige Grundlage eines gerechten und freien Gemeinwesens***. Der "Westen" steht letztlich für wenig bis nichts mehr davon.

Wir sind zumindest mitverantwortlich für den Aufstieg dieses radikalen Islam, der in seiner Menschenverachtung unserer kapitalistischen Mentalität ebenbürtig ist. Was Paris, was Frankreich, was Europa in diesen Tagen so betroffen macht, das erleben die Menschen in Pakistan, in Afghanistan, im Irak, in Syrien und an vielen anderen Orten täglich.

Der Westen, also wir sind nicht besser als diese Terroristen, die in Paris Menschen ermordet haben. Nous sommes terroriste, wenn auch nur mittelbar über die Herrschaftsverhältnisse, denen wir unterworfen sind. So wie die Muslime in toto Geiseln ihrer radikalen Minderheit sind, so sind wir in toto Geiseln unserer Machthaber. Wir führen Krieg gegen muslimische Länder, wir zerstören ganze Staaten, wir stürzen andere in den Bürgerkrieg.

Bomben kennen keine Rechte, keine Freiheiten, keine Menschenwürde, auf keiner Seite.


Es herrscht Krieg zwischen Islamismus (in Ermangelung einer besseren Bezeichnung) und Konsumismus, und keine Seite ist besser. Im Krieg wird gemordet, in Uniform oder in Zivil (wie schon Tucholsky wußte), direkt oder indirekt, Schuldige und Unschuldige gleichermaßen.

Verbrecher sind wir allenthalben.

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*Addendum: Die deutsche Wiki erwähnt das auch, zusammen mit den daraus resultierenden Gerichtsverfahren, aber Wiki behält aber wieder mal den interessanten Ausgang für sich: Siné klagte gegen dieses Rauswurf und bekam vor dem Tribunal de Grand Instance recht (und 40.000 Euro). Es könne nicht behauptet werden, Sinés Arbeit sei antisemitisch, so die Urteilsbegründung. (Quelle)

**Addendum: Ich hab das neue Cover gesehen. Es zeigt zwar wieder den Propheten (was irgendeinen Mufti in Ägypten hat sogleich am Rad drehen lassen), ist aber anrührend und eine Geste über die aufgerissenen Gräben hinweg.

***Addendum: Als undogmatischem Christen geht mir allenfalls die Trennung von Kirche und Staat nicht weit genug.

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Guter Artikel. Danke.

Anonym hat gesagt…

Sehr schön geschrieben. Für solche ehrlichen Worte wird man außerhalb des Internets leider fast überall schief angeschaut bis offen bekämpft. Entweder reicht die Intelligenz und/oder Zeit zur Information/Bildung/Reflexion (neben ca. 10h Arbeit bis das Gehirn nichts als Ruhe vertragen kann) der Menschen nicht aus, oder noch schlimmer, die Intelligenz wird genutzt um noch ein bisschen mehr Kapital zu sammeln und anschließend in Besitztümern zu horten.

TheShadow hat gesagt…

Aufrichtigen Dank für die lobenden Worte. Was das schiefe Anschauen in RL angeht, habe ich die Feststellung gemacht, daß ein behutsam aufklärerischer Ansatz das beste Vorgehen darstellt; Schritt-für-Schritt die Dissonanzen und Diskrepanzen aufzeigen, sie sind ja doch recht evident. Man sollte sein Gegenüber immer auch damit konfrontieren, daß es selbst betroffen ist, und es dann zu eigenen Schlüssen kommen lassen. In dieser Welt gibt es eben keine roten und blauen Pillen...

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