Mittwoch, 13. Januar 2016

Meine Begegnung mit DSA 5 - Teil II

An dieser Stelle gilt es, kurz innezuhalten, und uns an die Verlagsversprechen zu erinnern.
Die 5. Edition der DSA-Regeln ermöglicht einen flüssigeren Spielablauf, actionreichere Kämpfe und ein einfaches Losspielen ohne vorher Hunderte Seiten an Regelwerk studieren zu müssen. Die Spieltiefe und die traditionelle Talentprobe mit drei W20 bleiben erhalten, werden aber um viele zeitgemäße Mechanismen wie Schicksalspunkte ergänzt. Die Charaktererschaffung läuft nun wesentlich zügiger. Viele überflüssige und verwirrende Sonderregeln wurden über Bord geworfen oder zu neuen, konsequenteren Lösungen zusammengefasst.
Am Ende der Tage, wenn mein Held, geschmiedet im Feuer des Regelwerkes, als Stat-Block stehen wird, werden wir all diese Worte einer strengen Prüfung unterziehen. Doch zunächst Talente, Sonderfertigkeiten und all das andere Gefrickel.

"Du sollst mit Schmerzen Kinder gebären" (1. Mose 3/16)

Einige Leser fanden den ersten Teil vergnüglich. Oh glaubt mir, das täuscht. Spätestens, wenn Du zwischen Spezialfertigkeiten, Talenten und Kampfwerten hin und her irrst und Punkte kappst, realisiert Du etwas. Die Regeln sind nicht mit Dir eingesperrt. Du bist mit den Regeln eingesperrt. Und Du bist ganz allein.

In Aventurien hört
Dich niemand schreien.

Das erste Bier ploppt auf, während der Charakterbogen sich öffnet. Das Regelwerk wartet schon im Foxit. Oder lauert es?



Nun gut. Ich hab nur noch ein Drittel meiner AP. Vom Studium des Charakterbogens kann ich schließen, daß ich ordentlich was in Talente buttern muß.

Hier offenbart sich übrigens die größte Falle bei der Erstellung. Ein Talent hängt - Folge der 3W20-Regel - von vier Faktoren und dem Würfelglück ab, nämlich drei Attributen und den Fertigkeitenpunkten, die man auf das Talent legt. Für einen Nichtinitiierten des inneren Kreises ist es praktisch unmöglich einzuschätzen, ob er in einem Talent nun gut ist oder eher so lala.

Egal, ich brauch AP. Als nächster Schritt sind Vor- und Nachteile dran, und auch in DSA 5 kann man sich mit Nachteilen AP holen (bis zu 80). Das entsprechende Kapitel ist 20 Seiten stark und ich hab Glück - fast alles, was meinen Zwergen sowieso auszeichnen wird (naiv, neugierig, loyal etc.) ist als AP-bringender Nachteil aufgelistet. Insgesamt hole ich mir 38 AP.

Die Vorteile ignoriere ich zunächst. Ich muß meine Talente pimpen. Da kein Bardenarchetyp als Vorbild im Buch vorhanden ist, werde ich das ganz alleine stemmen müssen. Das Talentkapitel ist wieder ein ordentlicher Brocken von 40 Seiten. Talente sind in Gruppen von A bis D unterteilt, die unterschiedliche AP-Kosten bei Erwerb und Steigerung aufweisen. Zunächst lege ich mir eine Shortlist an. Dazu muß ich tatsächlich alle Beschreibungen zumindest überfliegen.

Über den Talentwust bei DSA ist jahrelang viel gestritten worden. Es sind immer noch sehr viele, und etliche überflüssige dazu, die zudem ein seltsames Weltbild offenbaren. So kennt Zechen tatsächlich eine Probe auf "ein Abendbier trinken ohne Kopfschmerzen zu bekommen (+5)". Ja. Ich hol mir mal noch ein Stoertebeker Atlantik Ale in der frohen Gewißheit, davon garantiert weniger Dumpfschädel zu erleiden als durch diese Regeln, die mich in Geißelhaft halten.

In Aventuria, the rules own you.

*Plopp.*

Über die Details der folgenden zweieinhalb Stunden werde ich nur in der Selbsterfahrungsgruppe sprechen. Es ist ein wüstes Hin- und Herschieben von Talenten, Sonderfertigkeiten, Kampftalenten und Kampfsonderfertigkeiten, Nachteilen und Vorteilen. Immer wieder erinnere ich mich verbissen daran, was der Charakter sein soll, schnippel dort was weg und kleb da was dran. Zwei- oder dreimal hört seine Atmung auf, einmal verwandelt er sich in etwas Groteskes. Aber ich halte ihn fest, ich halte ihn fest.

Er atmet.

Das neue DSA 5 kennt keine Wunden mehr. Nur noch Schmerzen. Wirklich, das Wundsystem wurde umgebaut FYI.

Wege des Trinkers ist eine wichtige Spielhilfe
Der rechnende Bogen war bei den Talenten eine riesige Hilfe. Die AP für Sonderfertigkeiten und ähnliches muß man zwar tricksend über die Gesamt-AP einfügen, und meine Verbesserungen über die Kampf-SF läßt er mich nicht eintragen, aber hätte ich den ganzen Talentkram händisch machen müssen, ich hätts in die Ecke geschmissen und hier aufgegeben.

Und schließlich, schließlich bin ich durch. Ich bin bei -1 AP, aber wenn ein "Meister" da meckert, dann wird er feststellen, daß zur Erlangung eines Anus praeter ein zielsicher appliziertes Grundregelwerk vollkommen ausreicht. (Ja, ich bin jetzt ein bisserle Aggro)

Der allfällige Rest

Bevor ich die letzten Schritte abarbeite, habe ich mir ein weiteres Bier verdient. Dann aber: "Basiswerte bestimmen". Das sind die, die man vor der Heldenerschaffung in der Regeleinführung versteckt hat. Sie werden hier allerdings nochmals aufgegriffen, also kein Beinbruch, eher das Gegenteil - eine gewisse Redundanz schadet nicht. Jedenfalls, das hat der Bogen schon vollautomatisch gemacht. Nicht. Eine händische Verbesserung ist wie gesagt auch nicht möglich (oder ich bin blöd, kann auch sein). Ich werds in den Ausdruck nachtragen müssen.

"Ausrüstung" ist schnell erledigt dank der angebotenen Pakete. Es gibt Wildnispakete, Kleidungspakete und so weiter. Interessant ist eines der Beispiele, das schildert, wie die fiktiven Neuspieler der DSA-Welt sich ausrüsten.
Louisa entscheidet sich für einen Dolch (45 Silbertaler) und ein 10-Schritt-Seil mit Wurfhaken (17 Silbertaler). Das restliche Geld hat sie in einem sicheren Versteck für schlechte Zeiten aufgehoben. 
Als schlechte Zeiten definier ich da mal "Ich steh nackert mit 'nem Wurfhaken im Schneesturm."

Was noch kommt? Startalter, Namen und leckmichfett ich bin durch. Ich schließ das Regelwerk, die Platte moppert, das Kontroll-LED leuchtet rot. Irgendwie bedrohlich.

Heute ist nicht alle Tage.
Ich komm wieder, keine Frage.

Insgesamt habe ich knapp über sechs Stunden für einen spielfertigen weltlichen Charakter benötigt. Das ist, glaube ich, Bahnrekord.

Dreierlei Fazit

Um diesem Moloch gerecht zu werden, muß man ihn mehrerer Hinsicht bewerten. Zum einen an seinem geäußerten Anspruch als "einsteigerfreundlich", dann darf ich meine ganz persönliche Meinung kundtun, und schließlich noch DSA 5 als DSA.

DSA für Einsteiger. Joah. Ich habe - ohne Magie - so ca. 250 Seiten mehr oder minder genau lesen müssen und mich betrunken, um ohne zuviel Stabilitätsverlust durch die Charaktererschaffung zu kommen. (...) einfaches Losspielen ohne vorher Hunderte Seiten an Regelwerk studieren zu müssen. (...) Die Charaktererschaffung läuft nun wesentlich zügiger. Das ist offen gesagt eine dreiste Lüge. Wer das wirklich aufrichtig meint, der beginnt den Musikunterricht im Kindergarten auch mit tibetischen Kehlkopfgesängen. Es ist unter meine Würde weiter darüber zu diskutieren.

Meine persönliche Meinung: Vielleicht bin ich verbittert, vielleicht war es auch ein Fehler, einen leichtfüßigen, schwebenden Charakter mit dieser Dieselpunkschrottpresse zu generieren. Ich fühle mich, als hätte ich mit dem Fliegenden Holländer im Sturm vor Kap Hoorn um eine Seele gewürfelt. Niemals würde ich darauf kommen, dieses oder ein ähnliches System zum "Spielen" zu verwenden. Das ist Schwerstarbeit.

So. Das war höchst subjektiv. Wenn ich es aber so objektiv wie einer Person möglich als DSA betrachte, dann ist es ein Erfolg und eine fundamentale Verbesserung.

DSA war stets das
beste DSA seiner Zeit.

Seien wir mal ehrlich. DSA-Spieler stehen spätestens seit DSA 3 auf Frickel-Crunch und Tabellen-Porn, möglichst verschachtelt und tief ins Setting implantiert. Das mag nicht meins sein, das mag nicht Deins sein, aber DSA ist das Rollenspiel in Deutschland, immer noch.

Die Homeriker haben gründlich untersucht, was ihre Zielgruppe will. Keine Umwälzungen. Allenfalls behutsame Angleichungen. Das haben alle Umfragen gezeigt. Der Beta-Test war vielleicht nicht ganz reibungsfrei, aber auch er hat wohl genau diese Erkenntnisse gebracht. Keine Umwälzungen. Auf alle Fälle 3W20.

In diesem Rahmen - stets belauert auch von jenen, für die eine andere Anordnung der Attribute auf dem Charakterbogen bereits Blasphemie darstellt und die dann EMPÖRUNG in die Foren tragen - in diesem Rahmen mußte in Waldems ein Reformwerk geschaffen werden. In einer Atmosphäre, in der ein falsch gesetztes Komma als Mikroaggression gedeutet werden kann.

Und es ist gelungen. Es ist gelungen, eine Unzahl Sonderregeln, die wahrscheinlich in summa einen halben Wegeband füllen können, in das Zustands- und Statussystem zu überführen. Das ist simpel gutes Handwerk. Klar kann man das noch eleganter lösen, aber a) wäre das ein Designbruch und b) wollen die Fans das nicht eleganter. Die wollen vier römisch bezifferte Abstufungen.

Auch der 3W20-Moloch wurde halbwegs gebändigt. Natürlich mit einer weiteren Tabelle, die man genausogut weglassen könnte. Ich erwähnte schon den Tabellen-Porn. Das muß sein. Aber die Probe ist endlich über alle Teilbereiche vereinheitlicht und auch einheitlich abgestuft. Kudos auch dafür, daß "+" jetzt was Gutes ist. Gab bestimmt auch Flak. Um zum eigenen Anspruch des Werkes zurückzukommen: Die zweite Hälfte hat die Redax eingelöst.
Die Spieltiefe und die traditionelle Talentprobe mit drei W20 bleiben erhalten, werden aber um viele zeitgemäße Mechanismen wie Schicksalspunkte ergänzt. (...) Viele überflüssige und verwirrende Sonderregeln wurden über Bord geworfen oder zu neuen, konsequenteren Lösungen zusammengefasst.
Alles in allem ist da immer noch 4.1. drunter. Der Unterschied ist aber entscheidend, er liegt im Handwerk. War 4.1. ein im Hinterhof zusammengetackerter Sportwagen (aus alten Karren die gerade rumstanden), so ist DSA 5 der Nachbau durch ein Ingenieursbüro.

Wer Alrik will
muß leiden.

Es ist viel, viel besser geworden. DSA ist eine einzigartige Blüte, verwoben mit seiner Welt. Deswegen kommt auch keine Konversion - egal wieviel Spaß diese macht - an die einzigartige Kombi von Regeln / Welt heran, die DSA bietet. Das Frickeln, das Schrauben, das Punkteschieben, das pseudowissenschaftliche Geblubber über Zauberei, all das könnte kein anderes System bieten, das sich deutlich von 4.1. unterschiede.

Und wer sowas will, der muß eben durch die Charaktererschaffungshölle. Wahrscheinlich könnte man im Prozeß noch ein bißchen was optimieren, aber wer einen solchen Moloch spielen will, der muß leiden. So betrachtet ist der Schritt, keine Generierungssoftware anzubieten, kühn, aber konsequent.

Ich will es nicht leiten. Ich hab noch einen Blick auf den Rest des Buches geworfen. Nein, nein, nein, das leit ich nicht. Ich will es auch nicht eigeninitiativ spielen. Würde mit aber ein guter SL das "Meistern" anbieten, dann würde ich, anders als vor einem Jahr, nicht mehr schreiend weglaufen.

Aber wehe er meckert wegen -1 AP...

(Überrascht über den versöhnlichen Ausklang? Mein lieber Freund - ich habe einen DSA-Helden erschaffen. Ich unterliege Verwirrung III - sehr verwirrt, alle Proben –3, komplexe Aktivitäten wie Zaubern, Liturgien wirken und die Anwendung von Wissenstalenten ist unmöglich.)










6 Kommentare:

Zant hat gesagt…

Große Kunst. Danke für diesen tollkühnen Selbstversuch.

flippah hat gesagt…

Ich kann mir nicht helfen. Schon immer fühlte sich Aventurien mit DSA-Regeln schlechter an als Aventurien mit Gurps-Regeln.
Die Verwurstung von Regeln und Hintergrund gelingt eben gerade nicht! Die Flufftexte widersprechen vielmehr diametral den Regelelementen.

Anonym hat gesagt…

Ich stimme in allen Punkten mit Dir überein. Aber die Macher haben einen Fehler gemacht. Bei den Umfragen haben doch nur DSA Spieler, also Regelfanatiker und andere Masochisten mitgemacht. Alle die bereits von DSA abgesprungen waren oder sich direkt abgeschreckt gefühlt haben und lieber was anderes spielen, haben doch da nicht mitgemacht. Diese Leute holt man aber mit DSA 5 bestimmt nicht zu DSA. Diese Tür haben sie leider zu gemacht. Die Aussagen von den Autoren, dass es ein rundes, schlankes System wäre kann man wirklich nur aus der Position von DSA 4 machen, aber niemals aus der Position eines nicht DSA Spielers. Aber die Aussage von Evie Demirtel, dass ein Charakter in 40 Minuten zu erstellen wäre, empfinde ich schon als Hohn. Ich habe übrigens 4 Stunden gebraucht, war aber beim Erstellen flexibler als Du und habe mein Konzept den Regeln angepasst, was schade war. In 40 Minuten geht das vielleicht nur wenn man die Regeln perfekt kennt und schon 10 Charaktere erstellt hat.

TheShadow hat gesagt…

@Anon
Ich glaube nicht, daß es in der derzeitigen Marktsituation ein Fehler ist, Bestandskunden zu halten und ihnen den Vorzug zu geben. Das ist kaufmännisch klug und zeugt von Überlebensinstinkt.

Was die 6 Stunden angeht. Ca 2,5 gingen fürs Lesen drauf, ca. 1,5 Stunden fürs Livebloggen. Ich halte - mit größerer Systemerfahrung - das Erstellen eines Weltlichen in 60 bis 90 Minuten für machbar. 40 Minuten ist ein Witz, da hast Du recht.

@flippah - Meine letzte Erfahrung mit GURPS ist Version 3, glaube ich. Das System mag durchdachter und modularer sein, aber vom Frickelwert sehe ich da keinen so großen Unterschied.

@Zant - Danke.

Greifenklaue hat gesagt…

Mir ist schon klar, dass es für Dich eine Qual war, aber ich fand das hochunterhaltsam. Es erschreckt mich, dass ich Deine Qualen als unterhaltsam empfinde, vermute aber, dass es eher an der pointierten Schreibweise liegt.

Achso, wenn Dein Spiell... Meister Dir den einen AP nicht gewähren will, weise ihn doch ganz dezent auf diesen Bericht hin ...

Mit Teil I hatte ich auch schon Freude und bei uns wurde wild diskutiert, was ich Dir nicht vorenthalten will:
-> http://forum.greifenklaue.de/index.php?topic=9773.0

TheShadow hat gesagt…

Für eine "wilde Diskussion" ist da viel zu wenig Gift drin. :) Aber danke für den Hinweis, schon interessant.

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