Dienstag, 12. August 2014

"Ich hier, Wirklichkeit da." - "Wo?" - "Na, da drüben irgendwo halt. Ich hab sie lang nicht gesehen."

Aus der Vorstellungswelt
deutscher Redakteure
Gabor Steingart hat im Handelsblatt einen Leitartikel verfaßt, der in deutsch, englisch und russisch erschien: "Der Irrweg des Westens." Er zeigt, daß immer Hoffnung auf (hoffentlich dauerhafte) Besserung besteht:
Blätter, von denen wir eben noch dachten, sie befänden sich im Wettbewerb der Gedanken und Ideen, gehen im Gleichschritt mit den Sanktionspolitikern auf Russlands Präsidenten Putin los. Schon in den Überschriften kommt eine aggressive Verspannung zum Ausdruck, wie wir sie sonst vor allem von den Hooligans der Fußballmannschaften kennen. Der „Tagesspiegel“: „Genug gesprochen!“ Die „FAZ“: „Stärke zeigen“. Die „Süddeutsche Zeitung“: „Jetzt oder nie“. Der „Spiegel“ ruft zum „Ende der Feigheit“ auf: „Putins Gespinst aus Lügen, Propaganda und Täuschung ist aufgeflogen. Die Trümmer von MH 17 sind auch die Trümmer der Diplomatie.“ Westliche Politik und deutsche Medien sind eins. 
Voll auf die Zwölf. Kudos. Und um Gabor Steingart zu bestätigen hat jetzt die Welt nachgelegt. Dort darf Prof. em. Karl Schlögel seine Einsichten zum Besten geben. Die Überschrift "Donezk – ein Urbizid mitten in Europa" informiert darüber, daß in diesem Pfund Getipptem keine Gefangenen gemacht werden. "Urbizid" ist, laut dem Schöpfer dieses Begriffs, Markus Funck von der Uni Marburg, "die systematische Zerstörung oder Vernichtung von Städten". Eine Blendervokabel für Selbstverständlichkeiten der Kriegsführung seit 1936 (Guernica, Warschau, Coventry, London, Hamburg, Berlin, Dresden, Hiroshima, Sarajewo, Gaza-Stadt and surely to be continued).

Noch geiler wird es dann aber im Anreißer, den der Herr Emeritus hoffentlich nicht selbst verfaßt hat. Aber er hat wohl auch nicht protestiert, der Herr Emeritus.
Putins Mordgesellen: Russlands Präsident betätigt sich als Kriegsbrandstifter. Unter dem Deckmantel der "humanitären Mission" verfolgt er in Donezk die gnadenlose Zerstörung der einst blühenden Stadt.
Da kracht dem Leser doch die Freßleiste auf den Boden, oder? Putin bombardiert Donezk! Putin schießt Grad-Raketen in die Stadt! Putin läßt Panzer anrollen! Anders ist das nicht zu verstehen.


Zunächst wird wieder der drohende Einmarsch der "Russen" unter dem Deckmantel eines Hilfskonvois dramatisiert. Das Schmierenstück führt NATO-Sprecher Rasmussen ja seit Tagen auf und tingelt damit durch die Medien wie ein Schlangenölverkäufer durch den Wilden Westen. Das einzige was daran wahr ist: Putin möchte einen humanitären Hilfskonvoi "in Abstimmung mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK)" schicken.

Der Putin, dieser Verbrecher. Sanktionieren müßte man den dafür.

Ergänzung 13.08.2014 - 00:26): Die Geschichte um den Konvoi wird von Stunde zu Stunde undurchsichtiger.

Dann wird treulich brav wiederholt, was von Anfang schon als Desinformation und Propaganda erkennbar war. Die Rechtsradikalen am Majdan bilden wir alle uns nur ein. Es gab keine Mißhandlungen von Abgeordneten, bitte weitergehen. Antisemitismus und andere rassistische / nationalistische Exzesse fanden nicht statt. Fnord!

Die Kiever Junta ist voll knorke und möchte nur demokratische Wahlen und Kuchenwettessen veranstalten.

Es gibt auch keine Finanzhilfen und keine Waffenhilfen des Westens, die den Konflikt am Laufen halten. Hier schlägt sich ein braves Volk mit bösen Buben, die alle aus Rußland kommen oder zumindest von dort bezahlt werden. Wir müssen die zwar erst noch finden, aber glaubens mir mal. Ich bin Professor. PROFESSOR!

Natürlich schiebt er - auch hier vollkommen ohne Beweise - MH 17 den Rebellen in die Schuhe. Fragen nach dem Schweigen um die Black Boxes oder der Weigerung des ukrainischen Geheimdiensten, der malayischen Regierung Zugang zum beschlagnahmten Funkverkehr der verunglückten Maschine zu geben, kommen in diesem Weltbild nicht vor.

Man muß an dieser Stelle erwähnen: Prof. Schlögel war vor langen Jahren mal Maoist. Heute ist er verbügerlicht und steht  meilenweit von seinen alten Überzeugungen, da möchte ich ihm nichts unterstellen. Aber falls er jemals wirklich aufrichtig Maoist war (das weiß ich natürlich nicht), muß auch er die Grundlage für diese Ideologie besessen haben: Extreme geistige Flexibilität, die maximales Ausnutzen von kognitiver Dissonanz und Orwell'schem Doppeldenken erlaubt. Anders kann man nicht Maoist sein, auch nicht zeitweise.

Ich fühle mich sehr einsam
Nach seiner Darstellung einer Parallelweltukraine, die sich schön in gut und böse unterteilen läßt, schlägt Schlögel dann den Bogen zurück zum "Urbizid."
Schon früh – etwa in einem "Brief an all jene, die nicht in Donezk leben" vom Juni des Jahres – wurde beschrieben, was das ist: das langsame Sterben einer Stadt, ein Urbizid mitten in Europa. Mit fast soziologischer Präzision wird das tödliche Experiment beschrieben. Man muss den öffentlichen Raum besetzen und die rohe Gewalt an die Stelle der Regeln, die für alle gelten. Es müssen sich die Typen für ein solches Regime finden: Erniedrigte und Beleidigte, immer zu kurz gekommene [sic!], Abenteurer, gescheiterte Existenzen (...)
Neben den 99 bekannten Erscheinungsformen des bösen Russen fasziniert hier vor allem das Dokument "Brief an all jene, die nicht in Donezk leben". Google liefert mir zu diesem Text einen Treffer: Den Schlögel'schen Beitrag in der WELT (siehe Snapshot). Ich will wirklich nichts unterstellen, aber ich wäre überzeugter, wenn man dazu mehr erfahren könnte.

Ergänzung 13.08.2014 - 00:26: Mittlerweile hat mir ein Kommentator den Text in Russisch zugägnlich gemacht. es ist eine bedrückende Schilderung einer Stadt, die sich auf eine Belagerung vorbereitet. Der Krieg rückt näher, Bewaffnete in den Straßen, das Gefühl, daß die Stadt nie mehr so sein wird wie zuvor, auch Angst in der Nacht vor Bewaffneten, wenn man die Sperrstunde verletzt. Ja, eine sicherlich zutreffende Schilderung.

Indes, was sich nicht dort findet sind "rohe Gewalt an die Stelle der Regeln" und die "Erniedrigten und Beleidigten, immer zu kurz gekommenen, Abenteurer, gescheiterten Existenzen". Das hat der Herr Emeritus frei dazu erfunden, und nicht kenntlich gemacht. Das ist für einen Geschichtswissenschaftler ein GAU, auch wenn er hier "nur" für eine Zeitung schreibt. 

Und was auch klar sein sollte: Es ist nicht Putin bzw. Rußland, das die Stadt zerstören wird.

Auf die Tatsache, daß die Quelle - die ukrainische Pravda - derzeit im Großen und Ganzen so zuverlässig ist wie ihr russisches Gegenstück gehe ich jetzt nicht ein, da der Text nicht sehr propagandistisch ist, aber auch hier würde ich von einem Geschichtswissenschaftler erwarten, daß er die Quelle zumindest sichtbar einordnet. Ergänzung Ende.

Danach führt Schlögel aus, wie die "couragiertesten Bürger" machtlos sind gegen die Perfidie dieses "Urbizids". In der Tat. Es sei jedoch eine Frage gestattet: Warum fliehen all diese Bürger zu den bösen Russen und so wenige zu den guten Ukrainern, wie die Tagesschau berichtet, die nicht durch kiew-kritische Berichterstattung auffällt? Vielleicht hätte, vor Verfassung des Beitrags, Schlögel mal einen Bericht aus der Wirklichkeit konsumieren können, z.B. eine der Reportagen von Christian Wehrschütz aus dem umkämpften Donezk (Zeit im Bild, ORF, 08.08.2014).

Das ist alles letztlich nichts als Fiktion, Propaganda. Bestenfalls kann ich sagen, diesen... Sätzen liegen sehr einseitige Fakteninterpretationen zugrunde. Aber eigentlich ist das auch nichts anderes als der Schmuh der Boulevardpresse, transponiert in den Schwurbel selbsthalluzinierter "Eliten". Ein Erkenntnisgewinn - außer über den Verfasser - ist da nicht.

Vielleicht der: Gabor Steingart hat ohne Einschränkung recht. Und er ist viel zu nett in der Wahl seiner Sprache.

(Bullshit-Index 0.19 - ohne Fremdzitate 0.17)




4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Danke für diesen Artikel. Einer meiner besten Freunde ist Ukrainer, und was er mir erzählt (vor allem darüber, wie es seiner Schwester und ihrem Sohn geht, die beiden leben noch in der Ukraine), deckt sich halt so gar nicht mit dem der Marktschreier, die du oben erwähnst. Russischsprachige Ukrainer werden als Menschen zweiter Klasse behandelt, Russisch als Amtssprache ist praktisch verboten, und so weiter.

Es sind Hetzjagden wie diese, politisches Trommelschlagen, die mich immer wieder daran erinnern, wie froh ich sein kann, daß ich nicht mehr im politischen Journalismus arbeite.

Anonym hat gesagt…

"...aber ich wäre überzeugter, wenn man dazu mehr erfahren könnte": bitte schön. der artikel steht hier:
http://www.pravda.com.ua/rus/columns/2014/06/1/7027640/
lass ihn dir übersetzen - falls es dich wirklich interessiert.

TheShadow hat gesagt…

Danke. Dafür reicht es wahrscheinlich noch.

TheShadow hat gesagt…

Gelesen und Artikel entsprechend ergänzt. Nochmal vielen Dank an "Anonym" für das Link.

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