Es gibt zwei Dinge in diesem Jahrtausend, die vollkommen over-hyped werden: Fußball und Apple. Das eine löst einen kollektiven, überbrückenden Rausch aus, oder kann es zumindest, das andere ist Lifestyle-Scheiße, dazu da sich einen Wert zu geben, wobei sich mir diese spezielle Transferleistung wohl nie erschließen wird. Und die Akkus sind auch zu schnell leer.
Beiden ist gemein, daß zuviel über sie berichtet wird. Das teutonische Großmaul ("Nur der Titel zählt"), die Häme ("Deutschlands Triumph: Zack, zack, zack!"), das aus Arroganz, nein Hochmut artikulierte Mitleid ("Deutsche, zeigt mehr Mitgefühl.") und schließlich die furchtbaren Wortspiele ("Jogiganten"), sie befüllen dieser Tage mehr Seiten, als Stephen King publiziert hat.
Worüber also kann man zum Halbfinale gegen Brasilien noch schreiben? Über die Entstehung. Und über altgriechische Philosophie. Über was denn sonst?
Playlist zum Artikel:
"ALL DAS LEID"
Es ist aus, vorbei, Abpfiff! 90 Minuten Wahnsinn sind vorbei. David Luiz, Symbol dieser vom Trainer verratenen Mannschaft und Symbol ihrer Demütigung, bricht in die Knie und betet. Luis Gustavo folgt ihm, andere fallen um. Die Augen von Torwart Cesar starren nach oben, spiegeln die Leere des Nachthimmels. Auf den Rängen toben Leid, Zorn, Verzweiflung. Gellendes Pfeifen und Tränen tiefster Verzweiflung. Solche Gesichter sieht man sonst bei Menschen, die Angehörige Stück für Stück aus den Trümmern eines zerbombten Hauses im Nahen Osten kratzen. Das hier ist nur Fußball.
Über all das taumelt Béla Rethys Stimme. Er ist auf der Suche nach einer weiteren Senkgrube, in die er sich werfen kann. Ich wäre zu Tode beschämt, privat den Unsinn der letzten 60 Minuten erzählt zu haben. Bela macht sowas vor offenem Mikrofon und findet kein Ende. Er findet einfach keines. Er ist so unglaublich wie dieses Spiel.
Luiz ist jetzt in Tränen ausgebrochen. Die Freude der Deutschen ist verhalten, der Jubel vor den Anhängern eher dezent. Sie trösten ihre Gegner. Müllers Blick fällt kurz ins Rund, auch er realisiert, daß sie hier nicht nur ein Finale erreicht, sondern auf verquere Weise den Stolz einer Nation ernsthaft verwundet haben. Bei aller Freude über den sportlichen Erfolg, das kein gutes Gefühl sein.
Dann erscheint Oliver Welkes kahle Kugel im Bild, und das Schlimmste ist vorbei, womit ich Bela Rethy meine.
Fürs Protokoll: Ich mag Rethy nicht. Er ist mit Abstand der allerschlimmste Schwätzer bei diesem Turnier. Die sind alle mies, aber sie bleiben konstant. Rethy sucht immer neue Schlaglöcher, Schluchten und Abgründe auf. Der ist nie zufrieden mit der Absenkung des Niveaus, die er erreicht hat. Von der Rumpfgrammatik seines Satzbaus fang ich gar nicht erst an.
"Ich wollte nur meinem Volk Freude bereiten, all den Menschen, die so viel leiden in unserem Land. Leider haben wir das nicht geschafft. Ich möchte mich bei allen entschuldigen. Bei allen Brasilianern." David Luiz bricht nach dem Spiel mit diesen Worten fast vor dem Mikro zusammen. Mein Gott, mit welchem Ballast hat man diese Jungs beladen. Sollten sie tatsächlich mit ihren Siegen die Risse dieser gespaltenen Nation schließen, und man hat ihnen das vorher gesagt?
Natürlich kann ein Fußballspiel eine tiefere Bedeutung im Erleben einer Nation erlangen. Das wissen nicht zuletzt wir Deutschen, für deren (Groß-)Elterngeneration das "Wunder von Bern" einen Wiederauferstehungsmythos darstellt. Das "Schlaaand"-Getue dieser Tage ist nichts als ein Echo dieses Mythos, wenn auch zu einer Gestalt deformiert, die oft Übelkeit erregen kann.
Aber eine solche, über das Spiel weisende Bedeutung zeigt sich nachher, mit einem solchen Ballast schickt man keine Mannschaft in ein SPIEL. Das sind normale junge Männer, Sportler. Kann man sie mehr lähmen, als mit einer solchen Bürde? Das Vokabular (auch in diesem Beitrag) des schönsten Sports ist manchmal kriegerisch. Aber es ist eine spielerische Verwendung des Vokabulars, so wie Fußball eine spielerische Darstellung von Krieg ist. Daraus zu schließen, Fußballer seien Krieger und man könne ihnen ernsthaft die Last einer Nation aufbürden, auf daß alles (irgendwie) besser werde, das ist idiotisch.
Zwei Stunden vorher. Die Spieler sammeln sich in den Katakomben zum Einmarsch. Einige Mitglieder des brasilianischen Teams tragen weiße Kappen mit der Aufschrift "forca Neymar". Ich zucke mit den Schultern und geh schon mal unser Anstoßbier holen. Irgendwann muß Schluß sein mit diesem Neymar-Zirkus. Aber was sich während der Hymne abspielt ist grotesk. Ganz viel Tränen und sie klammern sich an das Trikot mit der #10 wie an eine Relique. Und ihr Torwart heißt Jesus.
Ist der denn jetzt gestorben, der Neymar, oder was soll das schon wieder? "Die haben Angst," entfährt es der besten Ehefrau von allen, die ich nicht so nennen soll.
Ich lege den Kopf schief. Anstoß für Deutschland, und wir stoßen auch an. Der Klang der Bierkrüge ist kaum verhallt, da fehlpasst Boateng zu Marcello, der erste brasilianische Angriff läuft und die erste Ecke ist nach 40 Sekunden fällig. Wie erwartet hoher Druck über die Außen, vor allem über unsere rechte Seite, dazu hohes Gegenpressing. Brasilien will das Tor und will es gleich. Die Deutschen zunächst für fünf, sechs Minuten im Klammergriff, Neuer muß zweimal eingreifen. Richtig zwingend ist das von den Gelben aber noch nicht.
Aber bei den Deutschen funktioniert das Umschalten nicht. Bälle verspringen, Özil rutscht aus. Wieder einmal scheint der Rasen überwässert. Aber das Konterspiel kommt einfach nicht in Gang. Es verspricht, spannend zu werden.
Ich glaube, ich habe selten im Fußball groteskeres Beiwerk gesehen, als diese brasilianische Hymne. Sicher mag es ein gutes Zeichen sein, wenn vor einem solchen Spiel die Hymne geschmettert wird (die Entscheidung der deutschen Stammtische steht da noch aus). Sowas kann als Fokus dienen, als Ruf zum Sammeln. Aber das war etwas vollkommen anderes. Dieses Sich-Klammern an das Shirt des Abwesenden war keine Hymne, das war ein beschissenes Requiem, gesungen mit voller Kraft aus 58.000 Kehlen.
Das Schlimmste, was der Mannschaft Brasiliens passieren konnte, war, ihnen noch MEHR Ballast aufzubürden. Die waren bepackt genug. Die Autosuggestion sollte ihnen Trotz einimpfen: Wir werden unser Bestes geben. Aber die Bedeutung war, im Kern, eine andere: Unser Bestes wird nicht reichen.
Wir sind ohne Neymar nicht gut genug für unser Land.
MÜÜÜÜÜLLLLLEEEEER
Ab der 7. Minute etwa beginnt die Diagonale Lahm - Khedira - Kroos - Özil das Spiel zu lesen. Marcello rückt extrem weit auf. Rechts dahinter öffnen sich Räume, die die Deutschen nun gezielt anspielen und weiter vorne wieder auf links verlagern. Noch ist das Zentrum des Gegners halbwegs verdichtet, aber es gelingen zwei drei hervorragende Kombinationen, die zwischen die eher unbeholfenen Angriffe der Brasilianer geschoben werden.
Müller und Özil, der heute abermals verbessert spielt (nach einigen Schwierigkeiten in den ersten Minuten), arbeiten über die Flügel mit Kroos und auch dem Oldie Klose in der Mitte gut zusammen. Die Gegenangriffe werden jetzt schon zu Beginn unterbunden, in der Hauptsache, weil Müller den verkappten Spielmacher der Brasilianer, Marcello, eng deckt und beginnt, ihn aus dem Spiel zu nehmen.
In der 11. Minute ist dann die Ecke für Deutschland fällig, und besser als hier kann man bei einem Standard eine Manndeckung nicht blocken und aushebeln. Müller schlakst den Ball ins Tor, vollkommen unbedrängt vom Gegner. 1:0 für Deutschland.
War das Spiel der Gelben vorher schon unkoordiniert, wollen sie jetzt die Brechstange ansetzen. Jetzt beginnt auch, mit einem schönen Sololauf nach Wiederanstoß, der Untergang von David Luiz. In der Folge ist der Innenverteidiger häufiger beim Gegner zu finden als auf seinem Posten, und Dante allein kann das Zentrum nicht abdichten.
Brasilien im Vorwärtsgang, aber die deutsche Deckung steht. Lahms Großtat auf rechts (deswegen wollen wir ihn da haben), als er den vorstürmenden Marcello am Tor abgrätscht, führt fast zu einem Boateng-typischen Ausraster. Aber es geht glimpflich ab. Durchatmen. Immerhin. Es ist die 18. Minute und noch immer steht es 1:0 für Deutschland. Der Ball läuft gut, aber zwingende Vorstöße in den Strafraum der Brasilianer bleiben aus.
23. Minute. Kroos spielt in den Strafraum auf Müller, der legt ab auf Klose, ein Versuch, abgewehrt, Nachschuß Klose. 2:0. Dante und Luiz schauen einfach nur von der Strafraumgrenze zu.
Die Katzen ziehen es aufgrund unserer Lautstärke vor, zunächst das Zimmer zu verlassen. So interessant ist der weiße Punkt auf dem grünen Feld dann doch nicht. Wahnsinn! 2:0 gegen Brasilien. Im Halbfinale! Mitte der ersten Halbzeit. Un-faß-bar! Klose hat den Weltrekord. Klose, der schon 2002 gegen Scolari spielte!
In diesem Moment zerbrach etwas in den Brasilianern auf dem Feld, das war in den Gesichtern zu lesen. Der ganze, über Wochen aufgestaute sentimentale Scheiß spülte durch diesen Dammbruch. Sie wachten auf aus der Trance, in die sie sich gegröhlt hatten, in die ihr Trainer, ihre Medien, ihr ganzes Land sie geschickt hatten, und sie realisierten, in welcher Lage sie steckten. Brasilien verzeiht Fußballniederlagen nicht, und die ersten "Fans" auf den Rängen begannen bereits zu weinen.
Nein, Brasilien verzeiht nicht. Was wie ein Klischee klingt, ist keines. Der Groll der Nation ragt über den Tod der Protagonisten hinaus. Ich weiß nicht, wie das geht (keine Ahnung mehr, wer bei der deutschen Schande von Cordoba gespielt hat, müßt ich raten). Ich nehme an, unbotmäßige Schüler müssen die Liste der Spieler herbeten, die das Wappen der Fußballnation Brasilien beschmutzt haben.
Man sah es auf dem Platz, als sie die Kugel zum zweiten Mal aus dem Netz holten. Die Blase der Selbsthypnose war geplatzt, die plötzliche Realität schockierte, und sie ahnten, daß die Namensliste länger werden wird.
TRAGÖDIE
Sie stecken nicht auf, sie rücken noch weiter vor. 2:0 und mehr als eine eine Stunde auf der Uhr. Da muß noch was gehen. Direkt nach dem Treffer schicken sie Bernard steil, aber Neuer hat keine Mühe, nimmt den Ball auf und läßt den gelben Zwerg abprallen. Gegenzug, Özil klug auf Lahm rechts vorne, der in den Strafraum, Kroos rauscht an.
Tor! 3:0 in der 23. Minute.
Auflösungserscheinungen beim Gegner. Die Deutschen bleiben dran. 4:0 direkt nach Wiederanstoß, Kroos spritzt in ein gegnerisches Zuspiel, marschiert und vollstreckt nach schönem Strafraumdoppelpaß mit Khedira.
Eine Deckung der Brasilianer existiert zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Sie versuchen, so etwas wie Offensivspiel, aber es ist fehleranfällig und wirkungslos. In der 29. Minute nutzen die Deutschen einen weiteren Fehlpaß. Khedira und Özil passen in leichtem Abseits im Strafraum Dante aus, Innenverteidiger Luiz ist 20 Meter entfernt, Khedira vollstreckt.
Das (hauchdünn irreguläre) 5:0.
Das nicht gegebene Abseits war übrigens einer von zwei großen Fehlern des Schiedsrichtergespanns, der zweite folgt kurz darauf, als den Deutschen ein Handelfmeter verweigert wurde. Zwei Fehler, die sich nivellieren. Ansonsten leitete der Mexikaner die Partie, die sehr viel fairer verlief, als erwartet, mit ruhiger Hand und Übersicht.
5:0 blinkt es auf der Anzeigetafel. Das hört irgendwie kurz auf, Spaß zu machen. Das wird unheimlich. Die Blicke, die wir im Zimmer tauschen, sollen uns unserer Wirklichkeit vergewissern. Das passiert hier nicht wirklich, oder?
Es war abzusehen, daß sie das Halbfinale verlieren würden, Neymar hin, Tiago her. Mein Tip vorher war 3:1 nach Verlängerung. Ich hatte das Achtelfinale gegen Chile gesehen. Die Chilenen waren spielerisch und taktisch besser, dabei aber nicht besonders gut. Es reichte für Brasilien mit viel Glück zum Elfmeterschießen, wo sich Scolari einfach geschickter anstellte als sein Pendant.
Was mir viel deutlicher in Erinnerung geblieben ist, ist das Geflenne danach. Klar, ist man erleichtert, aber das war selbst für "Südländer", um mal in Moderatorensprech zu verfallen, einfach zuviel. Das war keine Erleichterung, das war Unglaube, und das war ein böses Omen. Die wußten, wie knapp sie dem Fußballtod entronnen waren (der übrigens nicht senst, sondern mit Fähnchen und roter Karte winkt). Sie wußten da glaube ich auch, daß sie nur noch von geborgter Zeit im Turnier leben.
Immer wieder in diesem Turnier die Tränen, das Beschwören des langen Leidenswegs der Mannschaft, aber auch der Nation. Alles, alles, werde besser. Schluchz. Heul. Uff. Özil, laß bei der Hymne das Maul zu. Ich habe mich entschieden und zur Hölle mit den Stammtischen. Du hast gut gespielt, und sowas braucht kein Mensch.
30. Minute. Das Publikum ist geschockt, schweigt. "Auswärtssieg! Auswärtssieg" hallt es in Deutsch von den Rängen. Nunja, man kann es den deutschen Fans nicht verdenken. Noch eine Viertelstunde bis zur Pause. Die Brasilianer versuchen es weiter. Eine Grundstruktur ist nicht mehr erkennbar, der Wille, noch was zu ändern schon. Aber es klaffen bedenkliche Lücken zwischen Vorder- und Hintermannschaft, ein Mittelfeld Brasiliens existiert nicht mehr.
Wo bleibt das Publikum, das verdammte, satte Mittelklassenpublikum, das sich die Karten für die Luxusarenen leisten kann, während draußen in den Favelas die Herzen vor den Fernsehern verbluten? Still sind sie, oder pfeifen gar. Rethy beginnt in Selbstgefälligkeit vor dem Mikro zu verfaulen. Er zieht bereits ein "Endfazit", als habe es Schweden nie gegeben, liest Statistiken und Rekorde vom Blatt ab, zieht verstaubte Ergebnisse von 1938 heraus... Bräsigkeit, Bräsigkeit, Du hast einen Namen.
Mich dagegen stimmt die deutsche Mannschaft bedenklich, selbst bei einem 5:0. Diese Phase bis zum Halbzeitpfiff ist nicht sonderlich gut. Hinten steht sie, schiebt nach Außen, hält Zentrum und Strafraum dicht. Aber nach vorne? Pomadig. Das altbekannte Problem. Unsaubere, unkonzentrierte Pässe im letzten Drittel, Abschlüsse werden nicht mehr herausgespielt, obwohl die Abwehr Brasiliens nicht mehr existiert. Ich mag das nicht.
Zur Pause pfeifen die brasilianischen "Fans" "ihre" Mannschaft aus. Sowas habe ich noch nie verstanden. Ich kann unzufrieden sein, unglücklich gar, aber so unterstütze ich garantiert keine Besserung.
Vor nicht einmal zwei Jahren hat die deutsche Mannschaft gezeigt, daß sie in einem Offensivrausch in der 58. Minute das 4:0 erzielen kann, um dann eine halbe Stunde später mit einem 4:4 den Platz zu verlassen. Und dabei noch Glück gehabt hat. Das war das Spiel gegen Schweden, und die Gelben damals waren über eine Stunde hinweg auch nicht viel besser als die Gelben in diesem Halbfinale. Scolari sollte das wissen. Er sollte auch die Anzeichen der Fahrlässigkeit bei den Deutschen in den letzten zehn Minuten gesehen haben.
Da geht noch was. Zumindest (sehr) theoretisch. Damit sollte er seine Mannschaft vielleicht etwas aufbauen können.
Tiago... Neymar... Was Brasilien an diesem Tage wirklich fehlte, war ein Zlatan Ibrahmimovic, kein Neymar. Eine eiskalte Hundeschnauze, die es haßt zu verlieren. Ein Kerl, der seine Mannschaft motivieren und mit seinen Fähigkeiten ein Spiel fast im Alleingang drehen kann. Bis dahin hat Neymar noch einen weiten Weg, und in diesem Moment des Halbfinals war seine Abwesenheit eigentlich nur noch eine Fußnote der Geschichte.
Das zweite Bier ploppt mit dem Wiederanpfiff auf, und ich nehme einen Schluck mit einer seltsamen Mischung aus Euphorie über das 5:0 und düsterer Vorahnung. Ich kenne die Untiefen dieser deutschen Mannschaft.
Tatsächlich scheint sich Brasilien zu fangen. Es beginnt eine Druckphase der Gelben, und jetzt zeigt auch die deutsche Strafraumdeckung, nicht mehr kommandiert von Hummels, sondern von Mertesacker, erste, haarfeine Risse. In der 48. versuchen Oscar und Fred Elfer zu schinden, trotz aussichtsreicher Position.
Die Gelben beginnen, ein offensives Kombinationsspiel aufzuziehen. In der 51. kann Neuer einen potentiell tödlichen Paß von Ramirez auf Oscar entschärfen, eine Minute später muß er einen Schuß des freistehenden Oscar abwehren. Wieder eine Minute später lenkt Müller tornah den Ball ins aus. Die nachfolgende Ecke wird zunächst abgewehrt, aber die Deutschen kriegen den Ball nicht weg. Paulinho erhält einen Paß im Strafraum, Neuer verhindert den Erfolg von Schuß und auch Nachschuß. Das brasilianische Publikum? Weitgehend ruhig.
Vier heiße, heiße Szenen in fünf Minuten. Von uns nach vorne? Nichts mehr, obschon die Lücke zwischen Hintermannschaft und Angriff zu einer regelrechten Kluft angewachsen ist, und Dante weitgehend allein in der Innen steht. Luiz schaltet sich immer massiver in den Angriff ein, und auch Marcello denkt nicht mehr an seine Deckungsaufgabe. Das Team in Gelb will mit aller Macht den Anschluß.
Ich rutsche tiefer in den Sessel, nuckle am Bier und murmle "Schweden" vor mich hin. Einen Unterschied zu jenem Spiel indes übersehe ich: Die Schweden hätten mindestens zwei davon bereits genetzt, und dann stünde das Spiel für die letzte halbe Stunde tatsächlich auf der Kippe.
Das Maracana-Stadion, wo das Endspiel stattfinden wird, ist im Guten wie im Bösen das Symbol des brasilianischen Fußballs. Fertiggestellt zur WM 1950 faßte es damals 200.000 Zuschauer, und es wurde wert darauf gelegt, daß sich jeder Brasileiro die Karten würde leisten können. Es symbolisierte zur bislang einzigen WM in Brasilien 1950 das Land als Nation des Fußballs. Diese Nation war stolz darauf, Gastgeber der WM zu sein, und es wurde nicht weniger erwartet, als der Titel.
Klar.
War 1954 das "Wunder von Bern" ein Gründungsmythos der BRD, so ist die Niederlage gegen Uruguay im Finale der WM 1950 eine Art Gründungstrauma des modernen Brasilien. Der Schock von Maracana ist unvergessen. Vielleicht erklärt das die unglaubliche Verachtung, die Wut, mit der in diesem Lande Niederlagen der Nationalmannschaft empfunden werden. Vielleicht erklärt das ihr Schweigen, als Brasilien in diesem Halbfinale nochmal Leben zeigte.
Vielleicht wußten sie aber auch: Jede Tragödie gaukelt noch einmal Hoffnung vor, aber das Ende ist unausweichlich. 2014 ist nicht 2012. Und der Trainer heute ist nicht mehr der Trainer von damals. Löw unternimmt den richtigen Schritt und baut die Offensive um.
Schürrle kommt in der 58. Minute.
VORHANG
58. Schürrle kommt für Klose, Müller rückt auf zentral. Das Spiel der Deutschen wird jetzt wieder etwas aktiver. In der 60. kommt Müller zum ersten deutschen Torabschluß in der zweiten Halbzeit. Es folgt eine kurze, offene Austauschphase. Brasilien drückt, die Deutschen kontern in die heillos offene Deckung Brasiliens, Schürrle scheitert in der 65. freistehend an Cesar.
Doch es geht zu Ende. Mit der Wiederaufnahme des deutschen Angriffs steht auch die deutsche Deckung wieder sicher und läßt keine gefährlichen Momente mehr zu. Müller, Kroos, Özil nutzen jetzt wieder die Räume in der praktisch aufgelösten brasilianischen Verteidigung, die Deutschen kombinieren sich leicht in den Strafraum und Schürrle exekutiert den Gegner in der 69. nun wirklich endgültig mit seinem 6:0. Sein 7:0 in der 79. Minute mag fast grausam erscheinen, ist aber eines der schönsten Tore dieses Turniers, aus unmöglichem Winkel hart unter die Latte.
War noch was? Ja, das 7:1 durch Oscar. Neuer regt sich berechtigt über seine Vorderleute auf. Nach 90 Minuten ist Schluß und die brasilianische Mannschaft bricht zusammen.
Rührung und Schrecken, erregt von einem Schauspiel, so vermeinte Aristoteles, reinigten den Menschen. Wer sich jetzt verwundert über die Bilder von den Rängen des Stadions zeigt, der vergißt: Fußball IST ein Schauspiel. Shakespeare wäre stolz, packte und erschreckte eines seiner Stücke zehntausende auf einen Schlag wie es hier geschah. Und so schwingt sich Titan a.D. Kahn mit einer Binse zum Philosophen des Abends auf: "So Geschichten schreibt nur der Fußball", und Welke neigt die Halbglatze.
AUSBLICK
Die brasilianische Mannschaft ist als Wettkampfverband zerstört. Das Publikum wird sie verhöhnen, und doch müssen sie noch einmal antreten, im "Kleinen Finale" gegen die Niederlande. Ich mag mir nicht vorstellen, wie sich das für diese zerschmetterten Seelen anfühlen muß, in einem Lande, wo man noch nach Jahrzehnten ausspuckt, wenn die Namen der Verlierer vom Maracana genannt werden.
"Trainiert" werden sie nochmal von Scolari, der sie schon gegen Deutschland im Stich gelassen hat. Die Psyche mit patriotischem Chakah-Chakah aufpumpen und das Ego der Spieler überhöhen ersetzt eben nicht Training, Ausbildung, Taktik. Das war bei ihm schon immer so. Um die deutschen Rumpler 2002 zu besiegen, benötigte er drei Superstars, zwei kleinere Superstars und sechs Spieler von gehobener internationaler Klasse. Und selbst da mußte Oliver Kahn noch mit einem Patzer in der 67. Minute aushelfen.
Er geht nach dem kleinen Finale, nicht zu früh.
Das Land? Wer weiß? Die Katharsis, die Reinigung mag dazu führen, daß sich die Bevölkerung endlich gegen ihre unfähige, korrupte Herrscherkaste stellt und die Verwerfungen im Lande grundlegend ändern will. Jetzt ist er weg, der Konsensscheiß Fußball, der zwei Jahre den Deckel auf dem brodelnden Topf hielt. Und für neun Milliarden Euro sie sind nicht nur ausgeschieden, sie wurden gedemütigt.
So wie das Wunder von Bern die Deutschen einte, sorgte die für die Ungarn damals unfaßliche Niederlage fürs erste Grummeln im stalinistischen Land und war einer der Zündfunken für den späteren Aufstand.
Die Deutschen? Nun, sie könnens. Sie müssens nur tun. Und endlich das Pomadige ablegen, das sie wieder mal in der Mitte der Spielzeit für eine halbe Stunde gezeigt haben. Gegen Argentinien indes wird das ein zäherer Gang.
Aber wenn wir ehrlich sind? Was kann diesen Abend denn noch im Fußball toppen?
(Bullshit-Index 0,1)
Es ist aus, vorbei, Abpfiff! 90 Minuten Wahnsinn sind vorbei. David Luiz, Symbol dieser vom Trainer verratenen Mannschaft und Symbol ihrer Demütigung, bricht in die Knie und betet. Luis Gustavo folgt ihm, andere fallen um. Die Augen von Torwart Cesar starren nach oben, spiegeln die Leere des Nachthimmels. Auf den Rängen toben Leid, Zorn, Verzweiflung. Gellendes Pfeifen und Tränen tiefster Verzweiflung. Solche Gesichter sieht man sonst bei Menschen, die Angehörige Stück für Stück aus den Trümmern eines zerbombten Hauses im Nahen Osten kratzen. Das hier ist nur Fußball.
Über all das taumelt Béla Rethys Stimme. Er ist auf der Suche nach einer weiteren Senkgrube, in die er sich werfen kann. Ich wäre zu Tode beschämt, privat den Unsinn der letzten 60 Minuten erzählt zu haben. Bela macht sowas vor offenem Mikrofon und findet kein Ende. Er findet einfach keines. Er ist so unglaublich wie dieses Spiel.
Luiz ist jetzt in Tränen ausgebrochen. Die Freude der Deutschen ist verhalten, der Jubel vor den Anhängern eher dezent. Sie trösten ihre Gegner. Müllers Blick fällt kurz ins Rund, auch er realisiert, daß sie hier nicht nur ein Finale erreicht, sondern auf verquere Weise den Stolz einer Nation ernsthaft verwundet haben. Bei aller Freude über den sportlichen Erfolg, das kein gutes Gefühl sein.
Dann erscheint Oliver Welkes kahle Kugel im Bild, und das Schlimmste ist vorbei, womit ich Bela Rethy meine.
Fürs Protokoll: Ich mag Rethy nicht. Er ist mit Abstand der allerschlimmste Schwätzer bei diesem Turnier. Die sind alle mies, aber sie bleiben konstant. Rethy sucht immer neue Schlaglöcher, Schluchten und Abgründe auf. Der ist nie zufrieden mit der Absenkung des Niveaus, die er erreicht hat. Von der Rumpfgrammatik seines Satzbaus fang ich gar nicht erst an.
"Ich wollte nur meinem Volk Freude bereiten, all den Menschen, die so viel leiden in unserem Land. Leider haben wir das nicht geschafft. Ich möchte mich bei allen entschuldigen. Bei allen Brasilianern." David Luiz bricht nach dem Spiel mit diesen Worten fast vor dem Mikro zusammen. Mein Gott, mit welchem Ballast hat man diese Jungs beladen. Sollten sie tatsächlich mit ihren Siegen die Risse dieser gespaltenen Nation schließen, und man hat ihnen das vorher gesagt?
Natürlich kann ein Fußballspiel eine tiefere Bedeutung im Erleben einer Nation erlangen. Das wissen nicht zuletzt wir Deutschen, für deren (Groß-)Elterngeneration das "Wunder von Bern" einen Wiederauferstehungsmythos darstellt. Das "Schlaaand"-Getue dieser Tage ist nichts als ein Echo dieses Mythos, wenn auch zu einer Gestalt deformiert, die oft Übelkeit erregen kann.
Aber eine solche, über das Spiel weisende Bedeutung zeigt sich nachher, mit einem solchen Ballast schickt man keine Mannschaft in ein SPIEL. Das sind normale junge Männer, Sportler. Kann man sie mehr lähmen, als mit einer solchen Bürde? Das Vokabular (auch in diesem Beitrag) des schönsten Sports ist manchmal kriegerisch. Aber es ist eine spielerische Verwendung des Vokabulars, so wie Fußball eine spielerische Darstellung von Krieg ist. Daraus zu schließen, Fußballer seien Krieger und man könne ihnen ernsthaft die Last einer Nation aufbürden, auf daß alles (irgendwie) besser werde, das ist idiotisch.
Zwei Stunden vorher. Die Spieler sammeln sich in den Katakomben zum Einmarsch. Einige Mitglieder des brasilianischen Teams tragen weiße Kappen mit der Aufschrift "forca Neymar". Ich zucke mit den Schultern und geh schon mal unser Anstoßbier holen. Irgendwann muß Schluß sein mit diesem Neymar-Zirkus. Aber was sich während der Hymne abspielt ist grotesk. Ganz viel Tränen und sie klammern sich an das Trikot mit der #10 wie an eine Relique. Und ihr Torwart heißt Jesus.
Ist der denn jetzt gestorben, der Neymar, oder was soll das schon wieder? "Die haben Angst," entfährt es der besten Ehefrau von allen, die ich nicht so nennen soll.
Ich lege den Kopf schief. Anstoß für Deutschland, und wir stoßen auch an. Der Klang der Bierkrüge ist kaum verhallt, da fehlpasst Boateng zu Marcello, der erste brasilianische Angriff läuft und die erste Ecke ist nach 40 Sekunden fällig. Wie erwartet hoher Druck über die Außen, vor allem über unsere rechte Seite, dazu hohes Gegenpressing. Brasilien will das Tor und will es gleich. Die Deutschen zunächst für fünf, sechs Minuten im Klammergriff, Neuer muß zweimal eingreifen. Richtig zwingend ist das von den Gelben aber noch nicht.
Aber bei den Deutschen funktioniert das Umschalten nicht. Bälle verspringen, Özil rutscht aus. Wieder einmal scheint der Rasen überwässert. Aber das Konterspiel kommt einfach nicht in Gang. Es verspricht, spannend zu werden.
Ich glaube, ich habe selten im Fußball groteskeres Beiwerk gesehen, als diese brasilianische Hymne. Sicher mag es ein gutes Zeichen sein, wenn vor einem solchen Spiel die Hymne geschmettert wird (die Entscheidung der deutschen Stammtische steht da noch aus). Sowas kann als Fokus dienen, als Ruf zum Sammeln. Aber das war etwas vollkommen anderes. Dieses Sich-Klammern an das Shirt des Abwesenden war keine Hymne, das war ein beschissenes Requiem, gesungen mit voller Kraft aus 58.000 Kehlen.
Das Schlimmste, was der Mannschaft Brasiliens passieren konnte, war, ihnen noch MEHR Ballast aufzubürden. Die waren bepackt genug. Die Autosuggestion sollte ihnen Trotz einimpfen: Wir werden unser Bestes geben. Aber die Bedeutung war, im Kern, eine andere: Unser Bestes wird nicht reichen.
Wir sind ohne Neymar nicht gut genug für unser Land.
MÜÜÜÜÜLLLLLEEEEER
Ab der 7. Minute etwa beginnt die Diagonale Lahm - Khedira - Kroos - Özil das Spiel zu lesen. Marcello rückt extrem weit auf. Rechts dahinter öffnen sich Räume, die die Deutschen nun gezielt anspielen und weiter vorne wieder auf links verlagern. Noch ist das Zentrum des Gegners halbwegs verdichtet, aber es gelingen zwei drei hervorragende Kombinationen, die zwischen die eher unbeholfenen Angriffe der Brasilianer geschoben werden.
Müller und Özil, der heute abermals verbessert spielt (nach einigen Schwierigkeiten in den ersten Minuten), arbeiten über die Flügel mit Kroos und auch dem Oldie Klose in der Mitte gut zusammen. Die Gegenangriffe werden jetzt schon zu Beginn unterbunden, in der Hauptsache, weil Müller den verkappten Spielmacher der Brasilianer, Marcello, eng deckt und beginnt, ihn aus dem Spiel zu nehmen.
In der 11. Minute ist dann die Ecke für Deutschland fällig, und besser als hier kann man bei einem Standard eine Manndeckung nicht blocken und aushebeln. Müller schlakst den Ball ins Tor, vollkommen unbedrängt vom Gegner. 1:0 für Deutschland.
War das Spiel der Gelben vorher schon unkoordiniert, wollen sie jetzt die Brechstange ansetzen. Jetzt beginnt auch, mit einem schönen Sololauf nach Wiederanstoß, der Untergang von David Luiz. In der Folge ist der Innenverteidiger häufiger beim Gegner zu finden als auf seinem Posten, und Dante allein kann das Zentrum nicht abdichten.
Brasilien im Vorwärtsgang, aber die deutsche Deckung steht. Lahms Großtat auf rechts (deswegen wollen wir ihn da haben), als er den vorstürmenden Marcello am Tor abgrätscht, führt fast zu einem Boateng-typischen Ausraster. Aber es geht glimpflich ab. Durchatmen. Immerhin. Es ist die 18. Minute und noch immer steht es 1:0 für Deutschland. Der Ball läuft gut, aber zwingende Vorstöße in den Strafraum der Brasilianer bleiben aus.
23. Minute. Kroos spielt in den Strafraum auf Müller, der legt ab auf Klose, ein Versuch, abgewehrt, Nachschuß Klose. 2:0. Dante und Luiz schauen einfach nur von der Strafraumgrenze zu.
Die Katzen ziehen es aufgrund unserer Lautstärke vor, zunächst das Zimmer zu verlassen. So interessant ist der weiße Punkt auf dem grünen Feld dann doch nicht. Wahnsinn! 2:0 gegen Brasilien. Im Halbfinale! Mitte der ersten Halbzeit. Un-faß-bar! Klose hat den Weltrekord. Klose, der schon 2002 gegen Scolari spielte!
In diesem Moment zerbrach etwas in den Brasilianern auf dem Feld, das war in den Gesichtern zu lesen. Der ganze, über Wochen aufgestaute sentimentale Scheiß spülte durch diesen Dammbruch. Sie wachten auf aus der Trance, in die sie sich gegröhlt hatten, in die ihr Trainer, ihre Medien, ihr ganzes Land sie geschickt hatten, und sie realisierten, in welcher Lage sie steckten. Brasilien verzeiht Fußballniederlagen nicht, und die ersten "Fans" auf den Rängen begannen bereits zu weinen.
Nein, Brasilien verzeiht nicht. Was wie ein Klischee klingt, ist keines. Der Groll der Nation ragt über den Tod der Protagonisten hinaus. Ich weiß nicht, wie das geht (keine Ahnung mehr, wer bei der deutschen Schande von Cordoba gespielt hat, müßt ich raten). Ich nehme an, unbotmäßige Schüler müssen die Liste der Spieler herbeten, die das Wappen der Fußballnation Brasilien beschmutzt haben.
Man sah es auf dem Platz, als sie die Kugel zum zweiten Mal aus dem Netz holten. Die Blase der Selbsthypnose war geplatzt, die plötzliche Realität schockierte, und sie ahnten, daß die Namensliste länger werden wird.
TRAGÖDIE
Sie stecken nicht auf, sie rücken noch weiter vor. 2:0 und mehr als eine eine Stunde auf der Uhr. Da muß noch was gehen. Direkt nach dem Treffer schicken sie Bernard steil, aber Neuer hat keine Mühe, nimmt den Ball auf und läßt den gelben Zwerg abprallen. Gegenzug, Özil klug auf Lahm rechts vorne, der in den Strafraum, Kroos rauscht an.
Tor! 3:0 in der 23. Minute.
Auflösungserscheinungen beim Gegner. Die Deutschen bleiben dran. 4:0 direkt nach Wiederanstoß, Kroos spritzt in ein gegnerisches Zuspiel, marschiert und vollstreckt nach schönem Strafraumdoppelpaß mit Khedira.
Eine Deckung der Brasilianer existiert zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Sie versuchen, so etwas wie Offensivspiel, aber es ist fehleranfällig und wirkungslos. In der 29. Minute nutzen die Deutschen einen weiteren Fehlpaß. Khedira und Özil passen in leichtem Abseits im Strafraum Dante aus, Innenverteidiger Luiz ist 20 Meter entfernt, Khedira vollstreckt.
Das (hauchdünn irreguläre) 5:0.
Das nicht gegebene Abseits war übrigens einer von zwei großen Fehlern des Schiedsrichtergespanns, der zweite folgt kurz darauf, als den Deutschen ein Handelfmeter verweigert wurde. Zwei Fehler, die sich nivellieren. Ansonsten leitete der Mexikaner die Partie, die sehr viel fairer verlief, als erwartet, mit ruhiger Hand und Übersicht.
5:0 blinkt es auf der Anzeigetafel. Das hört irgendwie kurz auf, Spaß zu machen. Das wird unheimlich. Die Blicke, die wir im Zimmer tauschen, sollen uns unserer Wirklichkeit vergewissern. Das passiert hier nicht wirklich, oder?
Es war abzusehen, daß sie das Halbfinale verlieren würden, Neymar hin, Tiago her. Mein Tip vorher war 3:1 nach Verlängerung. Ich hatte das Achtelfinale gegen Chile gesehen. Die Chilenen waren spielerisch und taktisch besser, dabei aber nicht besonders gut. Es reichte für Brasilien mit viel Glück zum Elfmeterschießen, wo sich Scolari einfach geschickter anstellte als sein Pendant.
Was mir viel deutlicher in Erinnerung geblieben ist, ist das Geflenne danach. Klar, ist man erleichtert, aber das war selbst für "Südländer", um mal in Moderatorensprech zu verfallen, einfach zuviel. Das war keine Erleichterung, das war Unglaube, und das war ein böses Omen. Die wußten, wie knapp sie dem Fußballtod entronnen waren (der übrigens nicht senst, sondern mit Fähnchen und roter Karte winkt). Sie wußten da glaube ich auch, daß sie nur noch von geborgter Zeit im Turnier leben.
Immer wieder in diesem Turnier die Tränen, das Beschwören des langen Leidenswegs der Mannschaft, aber auch der Nation. Alles, alles, werde besser. Schluchz. Heul. Uff. Özil, laß bei der Hymne das Maul zu. Ich habe mich entschieden und zur Hölle mit den Stammtischen. Du hast gut gespielt, und sowas braucht kein Mensch.
30. Minute. Das Publikum ist geschockt, schweigt. "Auswärtssieg! Auswärtssieg" hallt es in Deutsch von den Rängen. Nunja, man kann es den deutschen Fans nicht verdenken. Noch eine Viertelstunde bis zur Pause. Die Brasilianer versuchen es weiter. Eine Grundstruktur ist nicht mehr erkennbar, der Wille, noch was zu ändern schon. Aber es klaffen bedenkliche Lücken zwischen Vorder- und Hintermannschaft, ein Mittelfeld Brasiliens existiert nicht mehr.
Wo bleibt das Publikum, das verdammte, satte Mittelklassenpublikum, das sich die Karten für die Luxusarenen leisten kann, während draußen in den Favelas die Herzen vor den Fernsehern verbluten? Still sind sie, oder pfeifen gar. Rethy beginnt in Selbstgefälligkeit vor dem Mikro zu verfaulen. Er zieht bereits ein "Endfazit", als habe es Schweden nie gegeben, liest Statistiken und Rekorde vom Blatt ab, zieht verstaubte Ergebnisse von 1938 heraus... Bräsigkeit, Bräsigkeit, Du hast einen Namen.
Mich dagegen stimmt die deutsche Mannschaft bedenklich, selbst bei einem 5:0. Diese Phase bis zum Halbzeitpfiff ist nicht sonderlich gut. Hinten steht sie, schiebt nach Außen, hält Zentrum und Strafraum dicht. Aber nach vorne? Pomadig. Das altbekannte Problem. Unsaubere, unkonzentrierte Pässe im letzten Drittel, Abschlüsse werden nicht mehr herausgespielt, obwohl die Abwehr Brasiliens nicht mehr existiert. Ich mag das nicht.
Zur Pause pfeifen die brasilianischen "Fans" "ihre" Mannschaft aus. Sowas habe ich noch nie verstanden. Ich kann unzufrieden sein, unglücklich gar, aber so unterstütze ich garantiert keine Besserung.
Vor nicht einmal zwei Jahren hat die deutsche Mannschaft gezeigt, daß sie in einem Offensivrausch in der 58. Minute das 4:0 erzielen kann, um dann eine halbe Stunde später mit einem 4:4 den Platz zu verlassen. Und dabei noch Glück gehabt hat. Das war das Spiel gegen Schweden, und die Gelben damals waren über eine Stunde hinweg auch nicht viel besser als die Gelben in diesem Halbfinale. Scolari sollte das wissen. Er sollte auch die Anzeichen der Fahrlässigkeit bei den Deutschen in den letzten zehn Minuten gesehen haben.
Da geht noch was. Zumindest (sehr) theoretisch. Damit sollte er seine Mannschaft vielleicht etwas aufbauen können.
Tiago... Neymar... Was Brasilien an diesem Tage wirklich fehlte, war ein Zlatan Ibrahmimovic, kein Neymar. Eine eiskalte Hundeschnauze, die es haßt zu verlieren. Ein Kerl, der seine Mannschaft motivieren und mit seinen Fähigkeiten ein Spiel fast im Alleingang drehen kann. Bis dahin hat Neymar noch einen weiten Weg, und in diesem Moment des Halbfinals war seine Abwesenheit eigentlich nur noch eine Fußnote der Geschichte.
Das zweite Bier ploppt mit dem Wiederanpfiff auf, und ich nehme einen Schluck mit einer seltsamen Mischung aus Euphorie über das 5:0 und düsterer Vorahnung. Ich kenne die Untiefen dieser deutschen Mannschaft.
Tatsächlich scheint sich Brasilien zu fangen. Es beginnt eine Druckphase der Gelben, und jetzt zeigt auch die deutsche Strafraumdeckung, nicht mehr kommandiert von Hummels, sondern von Mertesacker, erste, haarfeine Risse. In der 48. versuchen Oscar und Fred Elfer zu schinden, trotz aussichtsreicher Position.
Die Gelben beginnen, ein offensives Kombinationsspiel aufzuziehen. In der 51. kann Neuer einen potentiell tödlichen Paß von Ramirez auf Oscar entschärfen, eine Minute später muß er einen Schuß des freistehenden Oscar abwehren. Wieder eine Minute später lenkt Müller tornah den Ball ins aus. Die nachfolgende Ecke wird zunächst abgewehrt, aber die Deutschen kriegen den Ball nicht weg. Paulinho erhält einen Paß im Strafraum, Neuer verhindert den Erfolg von Schuß und auch Nachschuß. Das brasilianische Publikum? Weitgehend ruhig.
Vier heiße, heiße Szenen in fünf Minuten. Von uns nach vorne? Nichts mehr, obschon die Lücke zwischen Hintermannschaft und Angriff zu einer regelrechten Kluft angewachsen ist, und Dante weitgehend allein in der Innen steht. Luiz schaltet sich immer massiver in den Angriff ein, und auch Marcello denkt nicht mehr an seine Deckungsaufgabe. Das Team in Gelb will mit aller Macht den Anschluß.
Ich rutsche tiefer in den Sessel, nuckle am Bier und murmle "Schweden" vor mich hin. Einen Unterschied zu jenem Spiel indes übersehe ich: Die Schweden hätten mindestens zwei davon bereits genetzt, und dann stünde das Spiel für die letzte halbe Stunde tatsächlich auf der Kippe.
Das Maracana-Stadion, wo das Endspiel stattfinden wird, ist im Guten wie im Bösen das Symbol des brasilianischen Fußballs. Fertiggestellt zur WM 1950 faßte es damals 200.000 Zuschauer, und es wurde wert darauf gelegt, daß sich jeder Brasileiro die Karten würde leisten können. Es symbolisierte zur bislang einzigen WM in Brasilien 1950 das Land als Nation des Fußballs. Diese Nation war stolz darauf, Gastgeber der WM zu sein, und es wurde nicht weniger erwartet, als der Titel.
Klar.
War 1954 das "Wunder von Bern" ein Gründungsmythos der BRD, so ist die Niederlage gegen Uruguay im Finale der WM 1950 eine Art Gründungstrauma des modernen Brasilien. Der Schock von Maracana ist unvergessen. Vielleicht erklärt das die unglaubliche Verachtung, die Wut, mit der in diesem Lande Niederlagen der Nationalmannschaft empfunden werden. Vielleicht erklärt das ihr Schweigen, als Brasilien in diesem Halbfinale nochmal Leben zeigte.
Vielleicht wußten sie aber auch: Jede Tragödie gaukelt noch einmal Hoffnung vor, aber das Ende ist unausweichlich. 2014 ist nicht 2012. Und der Trainer heute ist nicht mehr der Trainer von damals. Löw unternimmt den richtigen Schritt und baut die Offensive um.
Schürrle kommt in der 58. Minute.
VORHANG
58. Schürrle kommt für Klose, Müller rückt auf zentral. Das Spiel der Deutschen wird jetzt wieder etwas aktiver. In der 60. kommt Müller zum ersten deutschen Torabschluß in der zweiten Halbzeit. Es folgt eine kurze, offene Austauschphase. Brasilien drückt, die Deutschen kontern in die heillos offene Deckung Brasiliens, Schürrle scheitert in der 65. freistehend an Cesar.
Doch es geht zu Ende. Mit der Wiederaufnahme des deutschen Angriffs steht auch die deutsche Deckung wieder sicher und läßt keine gefährlichen Momente mehr zu. Müller, Kroos, Özil nutzen jetzt wieder die Räume in der praktisch aufgelösten brasilianischen Verteidigung, die Deutschen kombinieren sich leicht in den Strafraum und Schürrle exekutiert den Gegner in der 69. nun wirklich endgültig mit seinem 6:0. Sein 7:0 in der 79. Minute mag fast grausam erscheinen, ist aber eines der schönsten Tore dieses Turniers, aus unmöglichem Winkel hart unter die Latte.
War noch was? Ja, das 7:1 durch Oscar. Neuer regt sich berechtigt über seine Vorderleute auf. Nach 90 Minuten ist Schluß und die brasilianische Mannschaft bricht zusammen.
Rührung und Schrecken, erregt von einem Schauspiel, so vermeinte Aristoteles, reinigten den Menschen. Wer sich jetzt verwundert über die Bilder von den Rängen des Stadions zeigt, der vergißt: Fußball IST ein Schauspiel. Shakespeare wäre stolz, packte und erschreckte eines seiner Stücke zehntausende auf einen Schlag wie es hier geschah. Und so schwingt sich Titan a.D. Kahn mit einer Binse zum Philosophen des Abends auf: "So Geschichten schreibt nur der Fußball", und Welke neigt die Halbglatze.
AUSBLICK
Die brasilianische Mannschaft ist als Wettkampfverband zerstört. Das Publikum wird sie verhöhnen, und doch müssen sie noch einmal antreten, im "Kleinen Finale" gegen die Niederlande. Ich mag mir nicht vorstellen, wie sich das für diese zerschmetterten Seelen anfühlen muß, in einem Lande, wo man noch nach Jahrzehnten ausspuckt, wenn die Namen der Verlierer vom Maracana genannt werden.
"Trainiert" werden sie nochmal von Scolari, der sie schon gegen Deutschland im Stich gelassen hat. Die Psyche mit patriotischem Chakah-Chakah aufpumpen und das Ego der Spieler überhöhen ersetzt eben nicht Training, Ausbildung, Taktik. Das war bei ihm schon immer so. Um die deutschen Rumpler 2002 zu besiegen, benötigte er drei Superstars, zwei kleinere Superstars und sechs Spieler von gehobener internationaler Klasse. Und selbst da mußte Oliver Kahn noch mit einem Patzer in der 67. Minute aushelfen.
Er geht nach dem kleinen Finale, nicht zu früh.
Das Land? Wer weiß? Die Katharsis, die Reinigung mag dazu führen, daß sich die Bevölkerung endlich gegen ihre unfähige, korrupte Herrscherkaste stellt und die Verwerfungen im Lande grundlegend ändern will. Jetzt ist er weg, der Konsensscheiß Fußball, der zwei Jahre den Deckel auf dem brodelnden Topf hielt. Und für neun Milliarden Euro sie sind nicht nur ausgeschieden, sie wurden gedemütigt.
So wie das Wunder von Bern die Deutschen einte, sorgte die für die Ungarn damals unfaßliche Niederlage fürs erste Grummeln im stalinistischen Land und war einer der Zündfunken für den späteren Aufstand.
Die Deutschen? Nun, sie könnens. Sie müssens nur tun. Und endlich das Pomadige ablegen, das sie wieder mal in der Mitte der Spielzeit für eine halbe Stunde gezeigt haben. Gegen Argentinien indes wird das ein zäherer Gang.
Aber wenn wir ehrlich sind? Was kann diesen Abend denn noch im Fußball toppen?
(Bullshit-Index 0,1)
4 Kommentare:
Ich bin einer von den vier Deutschen der das spiel nicht gesehen hat. Ich mag kein fussball und weiss gar nicht warum ich den Post gelesen habe. Aber ejtzt tut es mir fast leid, dass ich das Spiel nicht gesehen habe.
P.S.: Mehr Kochrezepte im blog!
Nein, Timmy, du bist einer von sechs. :)
Schöner Bericht, auch wenn ich ebenfalls nichts von der ganzen Chose halte.
Hier ist Nummer 7. ttttttttttttttttttttldr sorry. Aber stellenweise war ich zu Tränen gerührt, man fühlt mit.
Beste Fussballreportage EVER. Klasse!
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