Im Karneval des Monates geht es um "Charaktere, Figuren und Charakterentwicklung", ein schönes Thema, das letztlich alle Medien berührt.
Stets am Limit
Wenn Sie ihre Figur darstellen, sei es
auf Papier, auf Zelluloid (jaja, ich weiß...), sei es am Tisch oder
in einem Zeltlager im Schlamm mit einem Gummischwert an der Seite,
lassen Sie den Charakter immer am Limit seiner Fähigkeiten agieren. Sie
haben ihrem Publikum Dinge über ihn verraten und damit
Erwartungen gepflanzt. Werden diese enttäuscht, dann verliert das
Publikum das Interesse an ihm und - wenn gravierend genug -
das Interesse an Ihrer Erzählung.
Vor zwei Tagen regte mich der Tatort Es
ist scheiße böse auf. In diesem mittelmäßigen
Nuttenschlitzermelodram wurden wieder sämtliche Klischees
verballert, die man zusammenkratzen konnte, und darin verpackte man
profunde Erkenntnisse (Männer gehen zu Prostituierten, Callgirls
führen kein Glamourleben). Das rührte ein uninspirierter Kameramann
zu einem Bildermatsch, dessen ästhetische Klammer eine Kommissarin
mit übergroßen Füßen war, die immer wieder durch lange Korridore
stakste, manchmal sah man dabei nur ihren Schatten.
Was diesen... Krimi... dann aber endgültig versenkte, war diese Sequenz: Man hatte den Täter und ließ ihn laufen, weil man "nichts
gegen ihn in der Hand" habe. Alle vier Kommissare, die diese
Entscheidung trafen, hatten vergessen, daß der Mann kurz
vorher zugegeben hatte, seine Freundin mit einer Axt attackiert zu
haben.
Aber sie haben nicht ins der Hand... Von vier Ermittlern verwandelten sich drei
spontan in ungewöhnlich mobile Komapatienten, einer nahm
die Gestalt eines Ficus Benjamina an.
Ursachen
Dramaturgie. Die Anforderungen der
Dramaturgie - Bewegung, Entwicklung, Höhe- und Wendepunkte -
erlangen oft das Primat über die Anforderungen der Figur. Die Figur
ordnet sich dem Plot unter. Das ist in Ordnung, solange sie zu diesem
Zweck nicht zur Unkenntlichkeit verbogen wird.
Im Tatort-Beispiel befanden wir uns im
Wendepunkt zum dritten Akt. Hier muß nochmal der Einsatz erhöht
werden, das Tempo angezogen, bevor man auflöst. Das ist die
dramaturgische Erfordernis. Die Dramaturgie sollte hier sein: "Die
Ermittler kommen in Kontakt mit dem Mörder, erkennen ihn als solchen,
müssen ihn aber laufen lassen". Das ist soweit in Ordnung. Die
Umsetzung jedoch ist einfach nur Mist: "Die Ermittler bekommen den
Mörder zugeführt und erkennen ihn als solchen. Die Idioten
vergessen, warum er ihnen zugeführt wurde und lassen ihn laufen."
Am Tisch (und immer schön den Kopf draufschlagen)
Im Rollenspiel ist
Dramaturgie-macht-NSC-dumm weit verbreitet. Eines der populärsten
Beispiele ist der König, der nicht seine fähigen Krieger sondern eine
Bande abgerissener Anfänger schickt, das Königreich zu
retten. Warum? Dramaturgisch bringt der Designer damit das Abenteuer in Gang. Das ist tatsächlich ein eigenes Stereotyp im
RSP-Bereich. Fast schon parodistisch überspitzt kommt es im Idiotenball namens Tal der Finsternis zum Einsatz (Danke Sylandril).
In der GröKaZ (größten Kampagne
aller Zeiten) enttäuscht der Über-Feind, der sich als luschiges
Großmaul herausstellt, wie Augenzeugen berichten (Erik). Auf diese Weise
kann man rückwirkend drei Jahre Eisenbahnfahrt entwerten. Auch diese
Underperformance war dramaturgisch verursacht (hier die
berüchtigte Plotimmunität der Spielerfiguren).
Ein anderer Fallstrick sind besonders
"dramatische" Szenen, die die SC lösen (meistens jedoch
nur "erleben") sollen. In der Schlacht in den Wolken
greift eine fliegende Festung eine Stadt an, und es wird erwartet,
daß die Spielerhelden sie nach Art des Todessterns ausschalten.
Kein
schlechter Ansatz, kann Fun sein, wäre da nicht das Wissen darum,
wie überflüssig dieser Todeseinsatz ist. In der angegriffenen Stadt
tagt ein Convent, "es sind also nicht nur viele, sondern
wirklich viele Priester anwesend. Darunter jede Menge hochrangige
Priester. Dort kommt eine fliegende dämonische Festung. Warum nicht
die wunderbare Liturgie "Arkanum Interdiktum" wirken? Und
zwar ein so wirklich mächtiges, großes?" Was die Sache
schlagartig beenden würde. (Danke ChaosAmSpieltisch für dieses
Beispiel.)
Gegensteuern
Am Tisch und auf Papier läßt sich das
Problem eigentlich leicht vermeiden. Bauen Sie keine Überfiguren,
niemand makelloses, niemand, der so gerissen ist, daß man ihm
eigentlich nicht beikommen kann. Lassen Sie in Ihrer Figurenanlage
Raum für Fehler, die ein Versagen, falls es notwendig werden sollte,
plausibel erscheinen lassen. Dieser Drang zur Perfektion und
übermenschlichen Größe in unseren Figuren, der ist einfach unserem
Bedürfnis geschuldet, lauter kleine Mary Sues zu erschaffen.
Wenn Sie in diese Falle gelaufen sind,
und ihre Überfigur muß jetzt doch in absehbarer Zeit fehlbar
werden, bleiben ihnen zwei Möglichkeiten. Zum einen können Sie im
zweiten Überarbeitungsdurchgang die Figur rückwirkend auf Normalmaß
stutzen, um das Versagen plausibel zu machen, oder Sie stutzen sie von hier ab bis zur entscheidenden Szene zurecht.
Die zweite Variante kann sowohl
leichter als auch besser sein. Mit seinem Gunslinger Roland hat
Stephen King im ersten Band des Dark-Tower-Zyklus eine interessante Mary Sue
erschaffen: die perfekte, unüberwindliche Tötungsmaschine. Man kann
King vieles vorwerfen, nicht aber, daß er kein Gespür für
Ploterfordernisse hat. Als er die Geschichte Jahre später mit The
Drawing of the Three wieder aufnimmt, verstümmelt er als erstes
seine perfekte Mordmaschine. Nichts ist langweiliger, als ein
unüberwindlicher Protagonist.
Die oben beschrieben Tatort-Katastrophe
hätte sich leicht verhindern lassen. Die Ermittler stecken den
Mörder wegen des Axtangriffs in U-Haft und ermitteln
zwischenzeitlich weiter. Dann aber zieht seine Ex, die ihn für ein
armes Würstchen hält und zwischenzeitlich einen starken Beschützer
gefunden hat, die Anzeige zurück, und dann erst müssen sie ihn
gehen lassen. Das ist eine deutlichere und überraschendere, vor
allem aber plausible Wendung, die die Ermittler nicht in Topfpflanzen
verwandelt.
Subtile Fallstricke
Kevin Costners Waterworld war ein
überteurer Sommer-Blockbuster, dessen Dreh mit
Katastrophen und Schwierigkeiten aller Art fertigwerden mußte. Dann
kamen die Hollywood-typischen Testvorführungen, mit denen die
Akzeptanz des Filmes getestet wurde. Der Film schnitt in allen
Einzelkriterien gut ab, aber die Zuschauer mochten ihn als Film nicht. Das
trieb die Produzenten in den Wahnsinn. Egal wie sie ihn schnitten, die
Einzelnoten waren gut, die Gesamtnote lag weit darunter. Sie brachten
ihn schließlich in die Kinos, wo er floppte.
Zehn Jahr später führte ein
Dramturgie-Professor der UCLA den Film in zwei Varianten zwei Gruppen
vor. Das eine war die Langfassung von Waterworld, die erwartungsgemäß
in den Einzelkategorien gut abschnitt aber insgesamt nicht gefiel.
Die andere Gruppe sah denselben Film, und nur eine einzige Szene war
verändert worden. Diese Gruppe fand den Film gut, einige wunderten
sich, ihn vorher nicht gemocht zu haben.
Und das wäre doch eine Hausaufgabe: Holen
Sie sich den Film und finden Sie heraus, welche kleine Szene die
Karriere von Kevin Costner in den Sinkflug schickte.
6 Kommentare:
"Zehn Jahr später führte ein Dramturgie-Professor der UCLA den Film in zwei Varianten zwei Gruppen vor"
LINK, or it didn't happen!
Google-Suche ergab hierzu nichts. Also ist es vermutlich nicht wahr. Oder hast Du einen Link zu diesem Experiment?
Nochmal den Waterworld-Schrott anschauen werde ich sicher NICHT!
LINK, or it didn't happen!
OMFG. Reiß mal den Blick vom Monitor und lenke ihn aus dem Fenster. Das Zeug da nennt man "Realität". Ist zum größten nicht digitalisiert.
Im Ernst: Wenn Du Dich hier umschaust, wirst Du feststellen, daß ich alles verlinke, zu dem ich Links habe. Ergo: Hier habe ich keins.
Noch schlimmer: Ich kann dir spontan auch nicht sagen aus welchem Script / Magazin / Reader / Buch ich das habe. Ich lese ca. 15.000 Seiten pro Jahr, das sind mehr als 100.000 in den verstrichenen sieben Jahren. Weiß Gott wo das drin war und in welcher Kiste das jetzt liegt.
Google-Suche ergab hierzu nichts. Also ist es vermutlich nicht wahr.
Du meinst ernsthaft, Du kannst die Inhalte aller Lehrveranstaltungen weltweit des Jahres 2005 (kann auch 2003 oder 2006 gewesen sein) ergoogeln? Have fun.
Nochmal den Waterworld-Schrott anschauen werde ich sicher NICHT!
Das wiederum ist nachvollziehbar. :)
Ich fand Waterworld eigentlich ganz gut. Hat seine Schwächen in Einzelkategorien, aber im Gesamten fand ich ihn eben gut. Also, welche Szene muss raus damit der Film für alle anderen erträglich wird??
Nun, die Behauptung, daß man letztlich nur EINE Szene in Waterworld ändern bräuchte, und es würde ein von den Zuschauern gut akzeptierter Film daraus, ist ja schon SEHR VOLLMUNDIG.
Daß es so "simpel" sein soll aus diesem Zugunglück an Film etwas Sehenswertes zu machen, kann ich nicht glauben. - Daher hätte ich gerne mehr Informationen.
So UNFUNDIERT, wie es in Deinem Artikel steht, ist das halt nicht mehr als eine schwer polemische Behauptung, welche Du benutzt, um Deine im Blog-Artikel dargelegte Sicht zu unterstützen. Nur unterstützt Du mit einer reinen Seifenblase.
Behaupten kann man ALLES.
Ohne diesen unbelegten und - zumindest von Dir unbelegbaren - Waterworld-Bezug wäre Dein Artikel besser.
Und in China fällt ein Sack Reis um... Soviel zu Waterworld (den ich eigentlich ganz nett finde)
"Nichts ist langweiliger, als ein unüberwindlicher Protagonist." Jepp. Interessant ist dann der Fall, der bei dem Storyteller-TTG "Inquisitor" vorkam. Hier gab es keine Regeln bei der Charaktererschaffung für die Begrenzung der Charaktere. Sprich es war durchaus möglich "unüberwindliche Protagonisten" zu erschaffen. Interessanterweise regelte sich diese "Schwäche" ganz von alleine, denn nur zu rasch wurden die "Powergamer" ganz einfach vor die Wahl gestellt, ihre Charaktere nach einem gewissen Fluff zu erschaffen und sie somit nicht vollkommen Over-The-Top anzulegen, sondern durchaus auch mit einfachen menschlichen Schwächen auszustatten oder einfach alleine zu spielen. Denn schließlich hat auch Super-Man seine Schwächen (Kryptonit und sein Mitgefühl für die Menschheit).
Durch diese äußerst freie und sehr fluffbezogene Charaktererschaffung wurde der SL schon öfters mal zum "Arschloch", aber er ist ja auch für das Spielgefühl der gesamten Mitspielerschaft verantwortlich und muss somit schon mal auf die Bremse treten und hier und da mal ein paar Grenze aufweisen.
Soviel zu dem Punkt und ansonsten feiner Artikel.
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