Dienstag, 24. April 2012

Stets am Limit


Im Karneval des Monates geht es um "Charaktere, Figuren und Charakterentwicklung", ein schönes Thema, das letztlich alle Medien berührt.

Stets am Limit

Wenn Sie ihre Figur darstellen, sei es auf Papier, auf Zelluloid (jaja, ich weiß...), sei es am Tisch oder in einem Zeltlager im Schlamm mit einem Gummischwert an der Seite, lassen Sie den Charakter immer am Limit seiner Fähigkeiten agieren. Sie haben ihrem Publikum Dinge über ihn verraten und  damit Erwartungen gepflanzt. Werden diese enttäuscht, dann verliert das Publikum das Interesse an ihm und - wenn gravierend genug - das Interesse an Ihrer Erzählung.

Vor zwei Tagen regte mich der Tatort Es ist scheiße böse auf. In diesem mittelmäßigen Nuttenschlitzermelodram wurden wieder sämtliche Klischees verballert, die man zusammenkratzen konnte, und darin verpackte man profunde Erkenntnisse (Männer gehen zu Prostituierten, Callgirls führen kein Glamourleben). Das rührte ein uninspirierter Kameramann zu einem Bildermatsch, dessen ästhetische Klammer eine Kommissarin mit übergroßen Füßen war, die immer wieder durch lange Korridore stakste, manchmal sah man dabei nur ihren Schatten.

Was diesen... Krimi... dann aber endgültig versenkte, war diese Sequenz: Man hatte den Täter und ließ ihn laufen, weil man "nichts gegen ihn in der Hand" habe. Alle vier Kommissare, die diese Entscheidung trafen, hatten vergessen, daß der Mann kurz vorher zugegeben hatte, seine Freundin mit einer Axt attackiert zu haben.

Aber sie haben nicht ins der Hand... Von vier Ermittlern verwandelten sich drei spontan in ungewöhnlich mobile Komapatienten, einer nahm die Gestalt eines Ficus Benjamina an.

Ursachen

Dramaturgie. Die Anforderungen der Dramaturgie - Bewegung, Entwicklung, Höhe- und Wendepunkte - erlangen oft das Primat über die Anforderungen der Figur. Die Figur ordnet sich dem Plot unter. Das ist in Ordnung, solange sie zu diesem Zweck nicht zur Unkenntlichkeit verbogen wird.

Im Tatort-Beispiel befanden wir uns im Wendepunkt zum dritten Akt. Hier muß nochmal der Einsatz erhöht werden, das Tempo angezogen, bevor man auflöst. Das ist die dramaturgische Erfordernis. Die Dramaturgie sollte hier sein: "Die Ermittler kommen in Kontakt mit dem Mörder, erkennen ihn als solchen, müssen ihn aber laufen lassen". Das ist soweit in Ordnung. Die Umsetzung jedoch ist einfach nur Mist: "Die Ermittler bekommen den Mörder zugeführt und erkennen ihn als solchen. Die Idioten vergessen, warum er ihnen zugeführt wurde und lassen ihn laufen."

Am Tisch (und immer schön den Kopf draufschlagen)

Im Rollenspiel ist Dramaturgie-macht-NSC-dumm weit verbreitet. Eines der populärsten Beispiele ist der König, der nicht seine fähigen Krieger sondern eine Bande abgerissener Anfänger schickt, das Königreich zu retten. Warum? Dramaturgisch bringt der Designer damit das Abenteuer in Gang. Das ist tatsächlich ein eigenes Stereotyp im RSP-Bereich. Fast schon parodistisch überspitzt kommt es im Idiotenball namens Tal der Finsternis zum Einsatz (Danke Sylandril).

In der GröKaZ (größten Kampagne aller Zeiten) enttäuscht der Über-Feind, der sich als luschiges Großmaul herausstellt, wie Augenzeugen berichten (Erik). Auf diese Weise kann man rückwirkend drei Jahre Eisenbahnfahrt entwerten. Auch diese Underperformance war dramaturgisch verursacht (hier die berüchtigte Plotimmunität der Spielerfiguren).

Ein anderer Fallstrick sind besonders "dramatische" Szenen, die die SC lösen (meistens jedoch nur "erleben") sollen. In der Schlacht in den Wolken greift eine fliegende Festung eine Stadt an, und es wird erwartet, daß die Spielerhelden sie nach Art des Todessterns ausschalten. 

Kein schlechter Ansatz, kann Fun sein, wäre da nicht das Wissen darum, wie überflüssig dieser Todeseinsatz ist. In der angegriffenen Stadt tagt ein Convent, "es sind also nicht nur viele, sondern wirklich viele Priester anwesend. Darunter jede Menge hochrangige Priester. Dort kommt eine fliegende dämonische Festung. Warum nicht die wunderbare Liturgie "Arkanum Interdiktum" wirken? Und zwar ein so wirklich mächtiges, großes?" Was die Sache schlagartig beenden würde. (Danke ChaosAmSpieltisch für dieses Beispiel.)

Gegensteuern

Am Tisch und auf Papier läßt sich das Problem eigentlich leicht vermeiden. Bauen Sie keine Überfiguren, niemand makelloses, niemand, der so gerissen ist, daß man ihm eigentlich nicht beikommen kann. Lassen Sie in Ihrer Figurenanlage Raum für Fehler, die ein Versagen, falls es notwendig werden sollte, plausibel erscheinen lassen. Dieser Drang zur Perfektion und übermenschlichen Größe in unseren Figuren, der ist einfach unserem Bedürfnis geschuldet, lauter kleine Mary Sues zu erschaffen.

Wenn Sie in diese Falle gelaufen sind, und ihre Überfigur muß jetzt doch in absehbarer Zeit fehlbar werden, bleiben ihnen zwei Möglichkeiten. Zum einen können Sie im zweiten Überarbeitungsdurchgang die Figur rückwirkend auf Normalmaß stutzen, um das Versagen plausibel zu machen, oder Sie stutzen sie von hier ab bis zur entscheidenden Szene zurecht.

Die zweite Variante kann sowohl leichter als auch besser sein. Mit seinem Gunslinger Roland hat Stephen King im ersten Band des Dark-Tower-Zyklus eine interessante Mary Sue erschaffen: die perfekte, unüberwindliche Tötungsmaschine. Man kann King vieles vorwerfen, nicht aber, daß er kein Gespür für Ploterfordernisse hat. Als er die Geschichte Jahre später mit The Drawing of the Three wieder aufnimmt, verstümmelt er als erstes seine perfekte Mordmaschine. Nichts ist langweiliger, als ein unüberwindlicher Protagonist.

Die oben beschrieben Tatort-Katastrophe hätte sich leicht verhindern lassen. Die Ermittler stecken den Mörder wegen des Axtangriffs in U-Haft und ermitteln zwischenzeitlich weiter. Dann aber zieht seine Ex, die ihn für ein armes Würstchen hält und zwischenzeitlich einen starken Beschützer gefunden hat, die Anzeige zurück, und dann erst müssen sie ihn gehen lassen. Das ist eine deutlichere und überraschendere, vor allem aber plausible Wendung, die die Ermittler nicht in Topfpflanzen verwandelt.

Subtile Fallstricke

Kevin Costners Waterworld war ein überteurer Sommer-Blockbuster, dessen Dreh mit Katastrophen und Schwierigkeiten aller Art fertigwerden mußte. Dann kamen die Hollywood-typischen Testvorführungen, mit denen die Akzeptanz des Filmes getestet wurde. Der Film schnitt in allen Einzelkriterien gut ab, aber die Zuschauer mochten ihn als Film nicht. Das trieb die Produzenten in den Wahnsinn. Egal wie sie ihn schnitten, die Einzelnoten waren gut, die Gesamtnote lag weit darunter. Sie brachten ihn schließlich in die Kinos, wo er floppte.

Zehn Jahr später führte ein Dramturgie-Professor der UCLA den Film in zwei Varianten zwei Gruppen vor. Das eine war die Langfassung von Waterworld, die erwartungsgemäß in den Einzelkategorien gut abschnitt aber insgesamt nicht gefiel. Die andere Gruppe sah denselben Film, und nur eine einzige Szene war verändert worden. Diese Gruppe fand den Film gut, einige wunderten sich, ihn vorher nicht gemocht zu haben.

Und das wäre doch eine Hausaufgabe: Holen Sie sich den Film und finden Sie heraus, welche kleine Szene die Karriere von Kevin Costner in den Sinkflug schickte.

6 Kommentare:

Zornhau hat gesagt…

"Zehn Jahr später führte ein Dramturgie-Professor der UCLA den Film in zwei Varianten zwei Gruppen vor"

LINK, or it didn't happen!

Google-Suche ergab hierzu nichts. Also ist es vermutlich nicht wahr. Oder hast Du einen Link zu diesem Experiment?

Nochmal den Waterworld-Schrott anschauen werde ich sicher NICHT!

TheShadow hat gesagt…

LINK, or it didn't happen!

OMFG. Reiß mal den Blick vom Monitor und lenke ihn aus dem Fenster. Das Zeug da nennt man "Realität". Ist zum größten nicht digitalisiert.

Im Ernst: Wenn Du Dich hier umschaust, wirst Du feststellen, daß ich alles verlinke, zu dem ich Links habe. Ergo: Hier habe ich keins.

Noch schlimmer: Ich kann dir spontan auch nicht sagen aus welchem Script / Magazin / Reader / Buch ich das habe. Ich lese ca. 15.000 Seiten pro Jahr, das sind mehr als 100.000 in den verstrichenen sieben Jahren. Weiß Gott wo das drin war und in welcher Kiste das jetzt liegt.

Google-Suche ergab hierzu nichts. Also ist es vermutlich nicht wahr.

Du meinst ernsthaft, Du kannst die Inhalte aller Lehrveranstaltungen weltweit des Jahres 2005 (kann auch 2003 oder 2006 gewesen sein) ergoogeln? Have fun.

TheShadow hat gesagt…

Nochmal den Waterworld-Schrott anschauen werde ich sicher NICHT!

Das wiederum ist nachvollziehbar. :)

McGoldi hat gesagt…

Ich fand Waterworld eigentlich ganz gut. Hat seine Schwächen in Einzelkategorien, aber im Gesamten fand ich ihn eben gut. Also, welche Szene muss raus damit der Film für alle anderen erträglich wird??

Zornhau hat gesagt…

Nun, die Behauptung, daß man letztlich nur EINE Szene in Waterworld ändern bräuchte, und es würde ein von den Zuschauern gut akzeptierter Film daraus, ist ja schon SEHR VOLLMUNDIG.

Daß es so "simpel" sein soll aus diesem Zugunglück an Film etwas Sehenswertes zu machen, kann ich nicht glauben. - Daher hätte ich gerne mehr Informationen.

So UNFUNDIERT, wie es in Deinem Artikel steht, ist das halt nicht mehr als eine schwer polemische Behauptung, welche Du benutzt, um Deine im Blog-Artikel dargelegte Sicht zu unterstützen. Nur unterstützt Du mit einer reinen Seifenblase.

Behaupten kann man ALLES.

Ohne diesen unbelegten und - zumindest von Dir unbelegbaren - Waterworld-Bezug wäre Dein Artikel besser.

Logan hat gesagt…

Und in China fällt ein Sack Reis um... Soviel zu Waterworld (den ich eigentlich ganz nett finde)

"Nichts ist langweiliger, als ein unüberwindlicher Protagonist." Jepp. Interessant ist dann der Fall, der bei dem Storyteller-TTG "Inquisitor" vorkam. Hier gab es keine Regeln bei der Charaktererschaffung für die Begrenzung der Charaktere. Sprich es war durchaus möglich "unüberwindliche Protagonisten" zu erschaffen. Interessanterweise regelte sich diese "Schwäche" ganz von alleine, denn nur zu rasch wurden die "Powergamer" ganz einfach vor die Wahl gestellt, ihre Charaktere nach einem gewissen Fluff zu erschaffen und sie somit nicht vollkommen Over-The-Top anzulegen, sondern durchaus auch mit einfachen menschlichen Schwächen auszustatten oder einfach alleine zu spielen. Denn schließlich hat auch Super-Man seine Schwächen (Kryptonit und sein Mitgefühl für die Menschheit).
Durch diese äußerst freie und sehr fluffbezogene Charaktererschaffung wurde der SL schon öfters mal zum "Arschloch", aber er ist ja auch für das Spielgefühl der gesamten Mitspielerschaft verantwortlich und muss somit schon mal auf die Bremse treten und hier und da mal ein paar Grenze aufweisen.

Soviel zu dem Punkt und ansonsten feiner Artikel.

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