Okay, Sie sind fast soweit. Zentraler Konflikt? Check! Hauptfigur? Check! Plotablauf? Check! Halt, das ist vielleicht etwas voreilig. Haben Sie ihren Plot in szenischen Stichworten auf Karteikärtchen geschrieben, eines pro Szene? Dann schieben Sie die Kärtchen noch ein bißchen umher, vielleicht ist eine andere Reihenfolge besser. Wenn Sie die ideale Reihenfolge gefunden haben, fixieren Sie sie an einer Pinnwand. Dann nochmal: Plotablauf? Check!
Der Prozeß - nicht nach Kafka (oder doch?)
Wenn die leere Seite vor Ihnen auf dem Bildschirm aufflammt und auf den ersten Satz Ihrer Geschichte wartet, hat eine Reise ohne Umkehr begonnen. Das Schreiben einer Erzählung ist ein Prozeß voller Regelmäßigkeit. Voraussetzungen um in diesen Prozeß zu kommen sind ein Ziel, eine Zeit.
Setzen Sie sich ein realistisches Pensum, das es täglich zu bewältigen gilt. Wenn Sie nebenbei schreiben und einen Job haben sagen Sie 300, 400 oder max. 500 Wörter täglich, die Sie schreiben wollen/müssen (!!). Sie haben Urlaub? 1200 klingt realistisch. Sie können auf diese Weise abschätzen, wie lange Sie für den Erstentwurf Ihrer Geschichte (sie wird irgendwo zwischen 5000 bis 15.000 Wörtern landen) brauchen werden.
Sie schreiben täglich. Sie müssen täglich schreiben. Sie haben ein Pensum. Schreiben erfordert ungestörtes Arbeiten. Ihr Umfeld (Familie) weiß das, man wird Sie in dieser Zeit ungestört lassen wie einen 500kg-Blindgänger aus dem letzten Krieg. Sie selbst müssen sich abschotten; kein Facebook, keine Tweets, keine Besuche auf ihren bevorzugten Seiten. Falls Sie sich überhaupt Internetzugang erlauben, dann ALLEINE zum Zwecke der Recherche für Ihre Geschichte. Haben Sie soviel Disziplin?
Wenn das Umfeld also entsprechend vorgewarnt ist, und Sie sich Ihrer selbsteingegangenen Verpflichtung klargeworden sind, dann geht es daran, die Geschichte aufzuschreiben. Erschaffen haben Sie sie ja mit dem Plotplan schon.
Und hinein...
Der erste Satz sollte Ihnen sehr leicht fallen, wenn Sie Ihre Vorbereitungen erledigt und den inneren Horror vor dem Prozeß selbst erst einmal abgelegt haben. Danach folgt der erste Absatz. Ehe Sie es bemerken sind Sie im Prozeß.
Wenn Du Dir eine 38er Lauf voran in den Mund schiebst, wird es nach dem Knacken des Hahnspannens seltsam ruhig um Dich und die Nacht schließt Dich ein. Im Mund hast Du einen Geschmack nach Waffenöl, Pulverresten und vor allem Metall, eine Mischung, die wie der Kupfergeschmack von Blut in Dich schneidet. Deine Sinne schärfen sich, und während die Dunkelheit sich um Dich zu drängen beginnt, kannst Du sie gleichsam transzendieren. Aber da ist nichts mehr. Das Atmen Deines Sohns im tiefen Schlummer des Achtjährigen ist für Dich verstummt, selbst der Schatten Deiner Frau, sonst ein steter Begleiter, wispert nicht mehr.Das ist hier am Rechner gerade runtergehackt, kein Blick zurück, keine Korrekturen. Einfach schreiben. Das ist die Exposition, die zum Plot gehört, den ich im letzten Teil als Beispiel aus dem Ärmel geschüttelt hatte. Den Lehrer habe ich ad hoc in einen Waffenhändler umgewandelt, weil mir der trinkende Lehrer als Klischee zu präsent ist. Das sind ~300 Wörter, bei einer Geschichte, die auf ca. 6000 Wörter angelegt ist. Mehr als 5% bis 10% sollte eine Exposition nicht umfassen.
Dein Universum hält den Atem an. Du bist Mitte Vierzig. Du hast einen Revolver im Mund und der Cognac im Glas bricht das Licht der Schreibtischlampe mit seinem Bernstein.
Wenn der Hahn ein zweites Mal knackt, wenn Du ihn entspannst, dann kehrt alles zurück. Die Dunkelheit jenseits des Schreibtischlichts ist wieder durchzogen von den Lauten des Lebens. Wie jeden Abend legst Du ihn vor Dich auf den Tisch, während Deine Hand wie ein Schlafwandler den Cognacschwenker findet. Das Metall glänzt mit öliger Schwärze. Ein Konkurrenzprodukt. Natürlich, Du hast ein Konkurrenzprodukt aus dem Waffenschrank geholt, ausgerechnet an dem Abend, als Du es beinahe wirklich getan hättest.
Deine Hände zittern.
Du gießt nach. Und runter damit. Plötzlich zerreißt ein Schrei die Stille, Dein Sohn hat einen Alptraum. Du wirfst die Waffe in die Schreibtischschublade und hastest aus dem Arbeitszimmer ans andere Ende des Korridors und lugst durch den Türspalt. Der Junge schläft, das siehst Du im Nachtlicht, sein kleines Gesicht ist verschwitzt. Er ist unruhig. Du schwankst zum Bett und birgst ihn in Deinen Armen, sachte, ihn nicht zu wecken, stark genug, die Finsternis aus ihm zu vertreiben. Sein Atem beruhigt sich, er wacht nicht auf, fragt nicht Deinem Atem.
Gott zeigt manchmal Gnade.
- Ein suizidaler Protagonist, der zwischen Selbstmord durch Waffe und Selbstmord durch Alkohol schwankt.
- Er ist alleinstehend, die Vermutung "Witwer" ist naheliegend.
- Er ist Mitte vierzig.
- Er ist psychisch ziemlich weit unten.
- Er ist Waffenhändler oder -produzent ("Konkurrenzprodukt").
- Er hat ein Kind, das ihm etwas (wie viel?) bedeutet.
- Er nennt das Kind nicht beim Namen, auch nicht bei einem Kosenamen ("Der Junge").
- Der Junge leidet unter Alpträumen, denn der Schrei ist vom Erzähler sofort dahingehend zugeordnet worden.
- Das Gottesbild des Protagonisten ist kein gnädiges ("zeigt manchmal Gnade"), aber es ist wohl vorhanden.
Perspektive
Der Text wendet sich mit einem "Du" in vertraulicher Art und Weise an den Leser. Das kann gutgehen, wenn sich z.B. der Charakter einer Beichte ergibt, wie sie sich manchmal zu vorgerückter Stunde zwischen relativ Fremden ereignet. Die Perspektive aus der zweiten Person Singular hat viel mit der Ich-Erzählung gemein, schafft aber, den richtigen Stoff mit der richtigen Behandlung vorausgesetzt, mehr Intimität zwischen Leser und Erzähler. In beiden Fällen jedoch kann nur erzählt werden, was der Hauptcharakter / Erzähler erlebt oder erfährt. Die Ich-Erzählung wirkt dabei oft sehr einfach zu handhaben, ist es aber nicht (ungeachtet der Schwerelosigkeit, mit der Chandler oder Salinger diese Form meistern).
Die traditionellere Form der Erzählung ist die in der dritten Person. Hier muß man sich entscheiden zwischen dem personalen Erzählen, d.h. aus Sicht einer Figur, oder dem allwissenden Erzähler. Letzterer ist zurecht aus der Mode gekommen, weil er die Versuchung fördert, als Autor immer wieder ungefragt aus der Geschichte hervorzuragen oder gar einen der gefürchteten Filibuster zu vollbringen. Der Vorteil des Erzählens aus einer Sicht ist eindeutig der, daß zur Not auch die Perspektive einer anderen Figur angenommen werden kann, z.B. um Geschehnisse abseits des hauptsächlichen Erzählcharakters wiederzugeben, ohne einen zu großen Bruch zu vollführen.
Ungeachtet der Wahl der Perspektive, kann es sich bei dem Erzähler um einen "unzuverlässigen Erzähler" handeln. Er gibt dem Leser nicht alle Fakten, und er gibt sie nicht unbedingt der Wahrheit entsprechend wieder, weil er seine eigenen Absichten hat, die wir zunächst nicht kennen. Das ist unterhaltsam und gemein, muß aber auf alle Fälle im Erzähler motiviert sein. Ein Beispiel wäre der klassische Wahnsinnige, der seine Geschichte erzählt, und dessen Wahnsinn wir erst im letzten Moment auf die Spur kommen. Reizvoll ist diese Variante gerade in Verbindung mit dem "Du-Erzähler", da diese Kombination den Leser zum Komplizen macht, wenn der Autor die Kombination erfolgreich durchführt.
Schreiben, Schreiben, Schreiben!
Der Prozeß ist schwer erklärbar, Sie werden ihn verstanden haben, wenn Sie eine Erstfassung eines narrativen Textes abgeschlossen und zur Seite gelegt haben. Sie werden feststellen, daß Sie gewachsen sind, da Sie die Weite, die in Ihnen ist, endlich auch erfahren und bereist haben. Schreiben, Schreiben, Schreiben bedeutet:
Von vorne nach hinten! Sie beginnen mit dem ersten Satz und schreiben Ihren Text herunter, bis Sie "Ende" tippen können. Sie werden nicht Szene 15 schreiben, dann Szene 19, schließlich 11. Sie schreiben die Sache herunter. "Ich schreib erstmal die spannenden Sachen, nachher dann die füllenden Szenen." Ja, das habe ich schon gehört und antworte dann: "Filler" sind Fett. Jede Szene ist spannend oder interessant. Ist sie es nicht, dann werfen Sie sie raus.
Nicht berichtigen! Schreiben heißt Schreiben, nicht korrigieren! Von Interesse sind immer die jetzigen und folgenden Absätze. Sie gehen nicht zurück, um Kleinigkeiten zu korrigieren (""sandfarben" zu "beige" ändern oder umgekehrt), Sie schreiben weiter. Jeden Tag X Wörter. Bleiben Sie im Flow. Sie schreiben jetzt Ihre Geschichte, korrigiert wird sie im zweien Durchgang.
Das Bedürfnis des "Gleich-Korrigierens" ist ein Warnzeichen einer Schreibblockade, geben Sie ihm nicht nach! Sie verbringen sonst den Rest Ihres Lebens in einer Endlosschleife, in der Sie immer und immer wieder die Szenen 1 bis 3 schreiben; jedesmal besser, nie gut genug!
Nicht Verbessern. Manchmal äußert sich die Blockade auch in Vorschlägen Ihres Verstandes, wie Sie das bereits Geschriebene im Rahmen einer "Verbesserung" des Ganzen ändern könnten. Meistens ist es nur Verzögerungstaktik des Feiglings in Ihnen, der Sie in die Endlosschleife der Korrekturen-beim-Schreiben drängen will. Schreiben heißt Schreiben, nicht Korrigieren. Weiterschreiben! Wenn Sie wirklich überzeugt sind, eine Verbesserung zu wissen, notieren Sie auch diese auf dem Zettel für den zweiten Durchgang. Taugt sie wirklich was, hält Sie sich dort frisch.
Notwendige Änderungen: Manchmal ist tatsächlich eine rückwirkende Korrektur notwendig, wenn Sie z.B. feststellen, sich mit einer Entscheidung in die "Ecke" geschrieben zu haben, z.B. weil der Protagonist dadurch unglaubwürdig geworden ist. In diesem Falle gehen Sie NICHT zurück und korrigieren, sondern machen einen entsprechenden Vermerk in eine Liste, die Sie im zweiten Durchgang verwenden werden. Schreiben Sie weiter mit der korrigierten Fassung im Kopf.
Selbstzweifel ignorieren. Der schrecklichste Teil des Prozesses ist die Angst, sich in Banalität zu verlieren. Es gibt kein Patentrezept gegen diese Angst, außer mehr zu schreiben. Wenn diese Gefühle (nicht "falls"; wenn!) Sie befallen, müssen Sie sich an den Pakt erinnern, den Sie eingegangen sind und es durchbeißen. Schreiben Sie weiter, der Flow ebbt sonst ab, und wer weiß, ob und wann die nächste Welle kommt.
Andere Ideen kommen aus der selben feigen Ecke Ihres Verstandes wie "Selbstzweifel" und "Verbesserungen". Es eine plötzlich auftretende Idee für eine andere Geschichte, die viel besser ist als das, woran Sie gerade arbeiten. Falls diese neue Idee Sie wirklich plagt, notieren Sie sie, irgendwann können Sie sich Ihr widmen. Aber JETZT arbeiten Sie an DIESER Geschichte hier.
Bleiben Sie dran! Schreiben Sie. Bleiben Sie im Prozeß, reiten Sie den Wal. Das klingt wie ein Aufmunterungsseminar, ich weiß, ist es aber nicht. Die meisten Schreiberlinge können von ihrer eigenen Erfahrung des Prozesses nicht kohärent berichten, auch wenn es an Versuchen nicht mangelt. Es ist eine Black Box voller Begeisterung, Qual und unendlichen Möglichkeiten, der Sie schließlich blutüberströmt entsteigen, mit blitzenden Augen, die Blätter Ihrer Erstfassung, die endlich fertig ist, in Ihren Zähnen. Sie sind Gott!
Okay. Legen Sie Ihre Erstfassung für ein, zwei Tage in die Schublade. Rühren Sie sie nicht an. Wenn Sie sie als nächstes hervorholen, werden Sie daran arbeiten. Schreiben ist Freude, Fertigstellen ist Arbeit. Wir sehen uns bei Teil IV zum Schleifen von Struktur und Sprache. Bis dahin.S
Anmerkung für Rollenspieler: Am Tisch sind diese Einblicke natürlich wertlos. Aber viele Designer schalten - sowohl bei Abenteuermodulen als auch bei Regelbüchern - in den Autorenmodus und schreiben manchmal eben auch Kurzgeschichten. Dabei fiel mir in der Vergangenheit (zuletzt gestern) auf, daß die narrativen Texte in Splatbooks gelegentlich von einer strukturierten Herangehensweise profitieren können. Daher habe ich dann den dritten Teil auch unter dem Label "Rollenspiel" über RSPblogs.de gehen lassen, vielleicht hilft es dem einen oder anderen, der aus der RSP-Ecke kommt.
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