Sonntag, 5. Februar 2012

Writing 101 "Ja, an den kann ich mich erinnern..."

(Alle W101-Beiträge finden sich hier.) 

Bücher, Drehbücher, Theaterstücke, Abenteuer fürs Rollenspiel - wenn all diese Formen sich auch voneinander unterscheiden (und ein gutes Abenteuer unterscheidet sich strukturell massiv) so haben sie doch mindestens eines gemeinsam: Zum Erfolg benötigen sie neben einem packenden Thema Figuren, die des Erinnerns wert sind. Darum soll es hier gehen.

Figuren einer Fiktion lassen sich grob in drei Kategorien einteilen. Die Hauptfiguren, die Nebenfiguren, die im Englischen mit "Supporting Cast" so trefflich benannt sind, und schließlich die Statisten, Extras, die Rumsteher und Bestenfalls-Ein-Satz-Sager. Die Hauptfiguren, die Protagonisten und Antagonisten, sollten i.d.R. schnell von der Hand gehen, zumindest in groben Zügen - sie sind es, die den Plot treiben, und Thema, Handlung und Protagonisten sollten ein so dichtes Netz weben, daß sie zumindest beim ersten Treatment bereits fast von alleine erstehen.

Rollenspiel: Der Designer von Abenteuern hat es da besonders gut; die Mitspieler kümmern sich um die "Helden", er muß nur noch die Schurken beisteuern.

Nebenfiguren

Ich will hier auf die Nebenfiguren (in welchem der angesprochenen Medien auch immer) eingehen, denn sie sind das Rückgrat einer guten Geschichte, sie geben Tiefe, Farbe, Textur, Sinnlichkeit und bieten den Hauptfiguren die Gelegenheit, sich überhaupt erst zu entwickeln. Sie stützen die gesamte, zerbrechliche Konstruktion einer Handlung.

Eine Nebenfigur ist eine untergeordnete Figur der Handlung, die entweder sporadisch während der gesamten oder gehäuft über einen kurzen Abschnitt der Handlung beiträgt. Sie unterstützt die Protagonisten ("der weise Ratgeber") oder Antagonisten ("kriechender Höfling").

Ganz nebenbei haben die meisten Nebenfiguren weitaus mehr Screentime als z.B. der Antagonist. Steht die Geschichte und Charakterzeichnung des Schurken beispielsweise nicht im Vordergrund, so sehen wir ihn gewöhnlich in der Exposition, vielleicht während der zentralen Peripetie (während der er lachend die Helden ihrem vermeintlich sicheren Schicksal überläßt) und während der Auflösung im dritten Akt.

George, der Mechaniker ist jedoch jedesmal da, wenn Captain Cochran seine Hawker Hurricane landet. "Blimey, Cap'n, ainna no closer call 'n this. All beaten up and bulleted. What were ya thinkin?!" Er tröstet, er leidet mit, und am Schluß hat er den rettenden Gedanken wie man die offenen Ölleitungen der Hurricane temporär dichten kann, um die Manöverfähigkeit der Hurries gegen die pöhsen Nazi-Messerschmitts zu erhöhen.

Der Antagonist ist wichtiger als George für das Szenario, denn er hält den Plot am Laufen ("Wärr mössan Brättanien värnächten."). Aber George, George hält den Helden am Laufen. Und er bekommt verdammt viel mehr Screentime dafür.

Rollenspiel: Das gilt natürlich noch mehr für's RSP. Während Film oder Buch immer wieder auf den Schurken schneiden können, ist Rollenspiel in seiner Standardausprägung zu 99% auf die Spielercharaktere konzentriert. Hier kommt lebendigen, aber funktionalen Nebenfiguren eine noch größere Rolle zu.

Was sind die Aufgaben einer Nebenfigur?

Richtig gelesen: Die Frage ist nicht "Wie kreiere ich eine Nebenfigur?" Das ist ziemlich analog zu den Hauptfiguren, sie benötigen Konsistenz, Haltung und Widersprüche, sie können Pat-the-dog-Momente haben und ihr Rubberducky explorieren. Wie der Schreiber das bewerkstelligt, ob mit 21-Fragen-Technik, 9-Karteikarten-Technik, Tarot legen, auswürfeln, das hat keine Bedeutung. Alle Ansätze sind valide, wenn sie Ergebnisse zeitigen. Pendeln Sie's aus, wenn sein muß. Sie wissen am besten, wie sie Charaktere erschaffen.

Aber wissen Sie auch, was eine gute Nebenfigur an Aufgaben erfüllen muß?

Sie hilft dabei, die Themen und Motive der Geschichte herauszustellen. In unserem kleinen Film mit George und Captain Chochran ist eines der Themen, wie eine Nation sich angesichts überwältigender Feinde und großer Not über alle gewachsenen Schranken hinweg eint, um in dieser Einigkeit zu widerstehen. George kontrastiert hier mit Chocran, der wahlweise aristokratischer Pilot (der leichtfertige Jockey-Typ) oder gehobenes Bürgertum darstellt (z.B. Luftfahrtingenieur im Zivilberuf).

Sie definiert, verstärkt und unterstreicht den Protagonisten in seiner Entwicklung. Eine der Entwicklungen, die Chochran durchlaufen muß ist, sein Klassendenken zu überwinden und nicht mehr auf die Unterschichten herabzusehen (One Nation in the Face of the Enemy). George ist entscheidender Begleiter auf diesem Weg - er richtet den Piloten auf, als er zweifelt, erweist sich als Praktiker im Gegensatz zum durch Theorie eingeengten Ingenieur ("Now, it works, don't it? Needn't ask why now, do ya?") und natürlich kommt es zwischendrin auch zu einem Zerwürfnis.
Am Ende aber, als George's unkonventionelle Aufrüstungen helfen, den Sieg in der Battle of Britain zu erringen (eine dolle 15-Minuten-Sequenz über London), wird er ein letztes Mal supporten. Als Chochran und die Piloten seiner Stadffel das Victoria-Kreuz erhalten sollen, machen die Asse geschlossen Platz für ihre Mechaniker, die das Wunder in 24 Stunden bewerkstelligt haben. (Wir haben hier einen kompletten III. Akt.) And we came full circle.

Sie gibt Stichworte und entscheidende Infos, um den Plot voran zu bringen. George hält, wie schon gesagt, den Helden am Laufen. Und er hat den Geistesblitz, den er zusammen mit Staffelführer und Ingenieur Chochran ausarbeitet. Hier zeigt sich übrigens die Vernetzung zwischen Plot und Charakter. Alle Elemente und Ereignisse die Einfluß auf einen Charakter haben, haben immer auch Einfluß auf den Plot und umgekehrt.

Sie erfüllt die Fiktion mit Leben, Farbe und Kontrasten. George, klein, ölverschmiert, blond. Trinkt gerne Milch (schwer zu bekommen in diesen Tagen) und hat stets seinen Hund bei sich, einen Spitz natürlich. Der hört auf den Namen "Spunks" oder vielleicht auch "Mr. Tickles". George kaut Tabak und spuckt das auf die Motoren, die er wartet. "That ain't no spittle, Mr. Chochran, Sir. That's a good luck patch."

Rollenspiel: Im RSP spielen erfahrungsgemäß 1) und 2) eher untergeordnete Rollen, weswegen hier 3) und 4) entscheidender sind. Bedenken Sie, von wie vielen NSC so eine Gruppe umgeben ist, die immer wieder auftauchen und kurze Rollen spielen, als kleines Ärgernis, als Helfer, Tippgeber, als Wirte und Händler und und und. Subtile Nuancen in der Charakterisierung gehen am Spieltisch übrigens oft schnell flöten, daher sollte hier eher mit kräftigen Pinselstrichen gearbeitet werden, die sich aber nicht zu oft zur Karikatur entwickeln dürfen.

Wichtig ist es, eine gute Balance zwischen der Zahl der Nebenfiguren und den Hauptfiguren zu erreichen. Einfach nur interessante Figuren einzuführen wird die Geschichte mit unnützen Fäden zukleistern. Wer außer meinen Protagonisten und Antagonisten ist notwendig, um die Geschichte so zu erzählen, wie ich sie haben möchte? Wer ist notwendig, um meine Hauptfiguren in ihrer Tiefe auszuloten? Diese Fragen müssen sehr früh beantwortet. Erscheint während des Schreibens eine neue Figur notwendig, sollte immer überlegt werden, ob deren Funktion nicht plausibel und unauffällig von einer bereits eingeführten Figur erfüllt werden kann, oder ob sie tatsächlich ein neues Element einführt, das ohne sie unerreichbar ist.

Auch hier ist Disziplin gefordert.

Writing 101 - In Deutschland kann man die Schreibseminare immer noch an einer Hand abzählen. Insofern werde ich immer mal wieder ein paar Tips und Tricks zum Handwerk ins Blog stellen, die mit diesem Label gekennzeichnet werden. Falls irgendwelche Wünsche in dieser Hinsicht bestehen; dazu sind die Kommentare da.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Vielen Dank für diesen Beitrag. Kam sehr gelegen.
Wunsch – Mitreißender Dialog ;-)
Gruß
Caliz

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